Dienstag, 21. April 2015

Meine Heimat?

„Kde domov můj“ – „Wo ist meine Heimat?“

Heute will ich einmal eine längere Geschichte erzählen, die über Pilsen und seine unglaublich vielfältigen Veranstaltungen als Europäische Kulturhauptstadt 2015 hinausgeht. Doch sie beginnt in der westböhmischen Metropole.

Die Pilsner kennen ihn, zumindest dem Namen nach, (fast) alle. Nach Josef Kajetán Tyl ist das „alte“ Große Theater benannt, ein mächtiger Neorenaissancebau am Rand der Altstadt. 


Das Josef-Kajetán-Tyl-Denkmal vor dem Großen Theater in Pilsen, das den Namen des tschechischen Schauspielers und Dramatikers trägt

Wahrscheinlich wäre er weniger monumental und pompös ausgefallen, wenn der österreichische, im böhmischen Pirnitz/Brtnice geborene Architekt Josef Hoffmann den gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausgeschriebenen Wettbewerb zum Neubau eines Stadttheaters gewonnen hätte. Aber dem deutschsprachigen, einem puristisch-schmucklosen Stil zugeneigten Hoffmann wurde der tschechischsprachige Antonín Balšánek vorgezogen, der eher auf imposante Repräsentationsbauten setzte. Nur eine Frage des Stils? Oder hatten bei der Wahl für Balšánek nicht vielleicht auch nationale Elemente mitgespielt? Die kleinen Nationen im riesigen Schmelztiegel der Donaumonarchie begannen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die eigene Kultur und Tradition zu besinnen. So auch die Tschechischböhmen.

Jedenfalls wurde das Große Stadttheater in Pilsen 1902, nach nur dreijähriger Bauzeit, eröffnet: mit Bedřich Smetanas Oper „Libuše“. Wie schon 21 Jahre zuvor das Prager Nationaltheater. Und auch das war wohl keine zufällige Entscheidung: Die Prinzessin Libuše gilt als legendäre Stammmutter der Přemysliden, die im Mittelalter 400 Jahre lang über Böhmen herrschten, bevor sie die Macht an die Luxemburger abtreten mussten.

Das Pilsner Große Stadttheater wurde dann, wie gesagt, nach Josef Kajetán Tyl benannt. Er war im Jahr 1865 in Pilsen gestorben, bei einem Gastspiel seiner Wandertheatergruppe, mit der er durch Böhmen zog. Erst 48 Jahre alt, arm und krank und Vater von sechs Kindern, zwei Töchtern und vier Söhnen (das siebte Kind kam einen Monat nach Tyls Tod auf die Welt). Eine ganz normale Geschichte also? Nein, ganz normal und alltäglich doch nicht. Die Story hat einen Background, den vielleicht nicht viele kennen, der aber heute für Schlagzeilen in Boulevardblättern sorgen würde: Nach wenigen Jahren kinderloser Ehe mit der Schauspielerin Magdalena Forchheimová verliebte Josef Kajetán Tyl sich in deren um 21 Jahre jüngere Schwester Anna und nahm sie mit zu sich. Der Dreier-Haushalt scheint funktioniert zu haben; denn weder ließ Magdalena sich scheiden noch hörten Josef Kajetán und Anna auf, Kinder in die Welt zu setzen: sieben in zwölf Jahren. 

Josef Kajetán Tyl auf einer Lithografie von Jan Vilímek
Sicher hätten die Tschechen mehr Anstoß an dieser für damalige Zeiten wohl skandalösen „Ehe zu dritt“ genommen, wenn Tyl inzwischen nicht eine Symbolfigur böhmischen Nationalbewusstseins geworden wäre. Im Jahr 1834 war in Prag Tyls „Fidlovačka“ (Das Schusterfest) aufgeführt worden, zu dem der tschechische Kapellmeister František Škroup die Musik geschrieben hatte. Das Theaterstück war nicht gerade ein Kassenschlager, doch eines der Lieder schmeichelte sich mit seiner getragenen, erhabenen Melodie bald in die Herzen der Tschechen ein: „Kde domov můj“ – „Wo ist meine Heimat?“. Das Heimatlied, in dem von brausendem Wasser und rauschenden Wäldern die Rede ist und Böhmen als irdisches Paradies verherrlicht wird, wurde gleich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zur Nationalhymne der eben gegründeten Tschechoslowakischen Republik erklärt und ist bis heute die tschechische Hymne (bewegend und unvergesslich ihr Vortrag beim feierlichen Staatsbegräbnis des tschechischen Ex-Präsidenten Václav Havel im Dezember 2011 im Prager Veitsdom).

Nicht nur die Pilsner, sondern alle Tschechen haben also von Josef Kajetán Tyl eine sehr viel seriösere Vorstellung als die eines unruhigen Wanderschauspielers und flatterhaften Herzensbrechers – der im Übrigen ein absolut gut aussehender Mann war, trotz der vielen Krankheiten, die seine Gesundheit schwächten und wohl auch zu seinem frühen Tod führten.
Die tschechische Nationalhymne, mit dem Text von Josef Kajetán Tyl und der Musik von
František Škroup
Die Nationalhymne, deren Textautor er ist, durfte bis 1938 auch auf Deutsch gesungen werden: „Wo ist mein Heim? / Mein Vaterland?“ sangen die Deutschböhmen, „Kde domov můj ? Kde domov můj ?“ war, mit zwei gleichlautenden Zeilen, die rhetorische Frage der Tschechen. Warum diese Divergenz? Ach, die ewige und immer wieder gestellte Frage nach dem Unterschied zwischen „Heimat“ und „Vaterland“.

„Was bedeutet für Sie ‚Heimat’?“ werde ich bei Lesungen aus meinem Buch „Böhmen hin und zurück“ oft gefragt. Manchmal helfe ich mir mit hochtönenden Zitaten über die Runden – „Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl“, „Heimat ist der Ort, wo sie einen hereinlassen müssen, wenn man wiederkommt“ –, andere Male, wenn der Hörerkreis kleiner und intimer ist, bekenne ich meine Vorstellung von „Heimat“: dass es für mich der Ort ist, wo ich alle Leute umarmen möchte, wo ich auch im Dunkeln keine Angst habe, wo ich mich einfach wohl fühle. Also domov můj im Tschechischen: mein Heim, meine Heimat, mein Zuhause. Und das hat nichts mit dem „Vaterland“ zu tun, das an Fahnenschwingen, rhetorische Reden und (leider auch manchmal) nationale Verbissenheit denken lässt und bei den Tschechen vlast heißt.

Das war jetzt eine Geschichte, die vielleicht weniger mit Pilsen, aber dafür mehr mit meinen böhmischen Wurzeln zu tun hat, mit meiner Suche nach einer Heimat. Aber doch auch mit Pilsen: Wenn ich über den Hauptplatz Náměstí Republiky gehe oder im Ateliér Jiřího Trnky das schöne, volle, weiche böhmische Gesicht des in Pilsen geborenen Animationskünstlers Jiří Trnka sehe, wenn ich durch die sanfte Hügelwelt um Pilsen fahre und aus Bedřich Smetanas sinfonischem Zyklus „Má vlast“ ein Motiv aus dem vierten Teil „Z českých luhů a hájů /Aus Böhmens Hain und Flur vor mich hinträllere, dann bin ich sicher: Das hier ist domov můj. Meine Heimat. Allerdings nicht mein Vaterland.

1 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Liebe Frau de Concini,

ich finde all Ihre bisherigen Berichte in diesem blog über Pilsen sehr interessant, und man darf sich auf die nächsten knappen 5 Monate, die Sie hier schreiben werden, sehr freuen.!!
Ich bin jedenfalls immer sehr gespannt, auf die nächsten Berichte.
Sie könne gerne jeden Tag einen Neuen bringen:-) !!
Ich habe Ihr Buch "Böhmen hin und zurück " übrigens auch.
Viel Freude weiterhin bei Ihrer Arbeit.
S. Buck

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