Mittwoch, 6. Mai 2015

70. Liberation Festival


Echte oder gespielte Amerikaner?

Sechs Tage amerikanisch-tschechische Emotionen

So sind sie jetzt vorbei, die Feiern und Festlichkeiten und Festakte zum 70. Jahrestag der Befreiung Pilsens durch die Amerikaner. Befreiung (natürlich) von den Deutschen. Sechs Tage lang schienen die Amerikaner, die sich mit Paraden, Militärcamps und Megakonzerten produzierten, wieder als Sieger die Stadt erobert zu haben. Die amerikanische, die tschechische und die belgische Flagge (denn auch Belgier waren bei der Befreiung dabei) vor dem Rathaus, Stars-and-Stripes- und weiß-blau-rote Standarten in den Händen von Kindern und Erwachsenen. Die Läden für Militärkleidung mussten an den Vor-Festival-Tagen gute Geschäfte gemacht haben: Viele Tschechen hatten sich selbst und ihre Kinder mit Militärhosen, Militärjacken und Militärmützen angetan, und viele Teilnehmer, die bei Umzügen und Aufmärschen mitwirkten, steckten in amerikanischen Pseudo-Uniformen. Also alles Verkleidung, Attrappe, historisches Spiel? Es wäre wohl allzu simpel und allzu kritisch, das sechstägige Fest zur Befreiung Pilsens als Schauspiel und die Stadt selbst als pure Kulisse abzutun. Sonst wären nicht an die hunderttausend Besucher gekommen, um sich dieses Festival anzuschauen und Helen Patton, der Enkelin des amerikanischen Befreiungs-Generals George Smith Patton, bei den offiziellen Reden und als großartige Sängerin zuzuhören. 

Helen Patton, die Enkelin des Generals George S. Patton, in hochgradiger Begleitung im Stadtzentrum von Pilsen
Von besonderer Sympathie und Neugier waren – gerade auch von jungen Leuten – mehrere Amerikaner und Belgier umgeben, die bei der Befreiung Pilsens mitgewirkt hatten: rührend anzusehende, aber unbedingt zu bewundernde Herumreich-Veteranen wohl um die neunzig, bei deren Anblick mich immer die Gänsehaut überlief. Was mussten diese alten Herren wohl im Mai 1945 hier in Pilsen gesehen und erlebt haben? Wie oft haben sie ihre Geschichte unverdrossen immer wieder neu erzählen müssen?



Dokumentaraufnahmen vom Mai 1945 auf Großleinwänden
Neben echten und falschen Amerikanern waren an diesen sechs Tagen in Pilsen auch viele Polen unterwegs. Kleine Gruppen, die stolz die Flagge der Heilig-Kreuz-Brigade schwenkten und für jeden Gesprächskontakt dankbar waren. Sie hoffen, dass im kommenden Jahr – neben der tschechischen, der amerikanischen und der belgischen Fahne – auch das polnische Banner am Rathaus ausgehängt wird. Denn auch Polen haben bei der Befreiung Pilsens von den Deutschen mitgespielt, was viele nicht wissen. Die aus etwa 1200 Mann bestehende Brygada świętokrzyska, die verherrlichte und umstrittene „Heilig-Kreuz-Brigade“, hatte sich durch die Tschechoslowakei bis zu den von Westen heranmarschierenden Amerikanern durchgeschlagen und am 5. Mai 1945 das deutsche Frauen-Konzentrationslager Holýšov im Südwesten von Pilsen befreit. Das erfuhr ich von einer Gruppe begeisterter Polen, die sich, galante Gentlemans, mit Handkuss von mir verabschiedeten.

Polen mit der Flagge der Heilig-Kreuz-Brigade

Nun ziehen die Amerikaner wieder ab und Pilsen hat sich selbst wieder. Doch zum Jahrestag des Zweiten-Weltkriegs-Endes gibt es noch einen Feiertag: den 8. Mai. Grund genug für die Pilsner (und alle Tschechen) zu einem verlängerten Wochenende im Grünen. Vielleicht in einer chalupa irgendwo im ehemaligen „sudetendeutschen“ Grenzgebiet, wo viele Tschechen die von den Deutschen im Jahr 1945 „frei gemachten“ Häuser einige Jahre später übernommen und zu Wochenend- und Ferienhäusern ausgebaut haben. Einige kennen die Geschichte der im Tschechischen odsun genannten Vertreibung der Deutschen, die meisten aber nicht. Ein Tabu, das sicher erst in einigen Jahren (Jahrzehnten?) aufgearbeitet sein wird. Aber das ist schon wieder ein anderes Kapitel.


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