Samstag, 16. Mai 2015

Die Nacht der Literatur


Immer wieder: die Vertreibung

Zur Noc literatury, der „Nacht der Literatur“, hatte Pilsen2015 an signifikanten Orten der Stadt zu mehreren Lese-Marathons eingeladen. Schriftsteller aus halb Europa – von Norwegen bis Portugal und von Spanien bis Österreich – lasen aus ihren Werken. Mein Heim war für einen Abend der Meeting Point am Hauptplatz, wenige Schritte von der Kathedrale entfernt.

„Als ich noch nicht einmal zwei Jahre alt war“, begann ich aus meinem Buch Böhmen hin und zurück * zu lesen, „wurde einer meiner Onkel, ein deutscher Geistlicher, von den Nationalsozialisten wegen ‚Abhörens feindlicher Sender‘ zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt “. Ich auf Deutsch, die Zuhörer mit der tschechischen Übersetzung in der Hand. „Einen Monat vorher, gleich bei Kriegsende, hatten wir schon aus der Schule weggehen müssen 24 Stunden Zeit, um in ein Nachbarhaus umzuziehen Und da war schon das Meiste zurückgeblieben Töpfe, Pfannen, Löffel, Messer, Gabeln meine handbestickten Sommerkleider und meine handgestrickten Winterpullover die Nähmaschine im Wohnzimmer und das Holz im Keller Und zurück blieben auch die Toten.“

Meine Familie im Jahr 1942 in Radowenz/Radvanice: meine Eltern, meine zwei Brüder, meine Schwester und ich (vorn in der Mitte)
Ich erzählte dann – mit Hilfe von Tereza Svášková, der immer präsenten Moderatorin und im Bedarfsfall auch Übersetzerin ins Tschechische – von einer Wanderung, die ich vor zwei Jahren auf unserer Treckroute vom Juni 1945 unternommen hatte: „Für mich ist diese Reise in die Vergangenheit, dieses Berühren von Straßen und Wegen, auf denen ich als ‚unerwünscht‘ fortgeschickt worden bin, eine Rückkehr in ein Böhmen, das meine Heimat ist. Trotz allem.“

Es kamen Fragen, langsam, behutsam, es gab Emotionen, Umarmungen, Tränen. Personen, die hier vielleicht zum ersten Mal mit dem Heimatverlust und der ewigen Heimatlosigkeit konfrontiert wurden. Die meisten der Zuhörer wussten – was auch heute in Tschechien noch nicht selbstverständlich ist – vom odsun, von der Vertreibung der Sudetendeutschen aus jahrhundertealten Siedlungsgebieten. Und alle gaben zu: Das Thema sei jahrelang ein Tabu gewesen, sei historisch simplifiziert worden (als „logische“ und gerechtfertigte Reaktion der Tschechen auf die von den Nazi-Deutschen begangenen Grausamkeiten), werde erst in den letzten Jahren von den jüngeren Generationen thematisiert und hinterfragt.

Lukáš Houdek,  „Der Brünner Todesmarsch“, aus dem Projekt „Die Kunst des Tötens“ (2012). Der 1982 in Westböhmen geborene Fotokünstler gestaltet darin mit Barbiepuppen tragische Vorfälle nach, die sich während der Vertreibung der Deutschen aus Böhmen zugetragen haben.
Auch in diesen Stunden der Literaturnacht empfand ich, was mir während meines Aufenthaltes als Stadtschreiberin in Pilsen zunehmend deutlich wird: dass ich alle Tschechen als meine Brüder und Schwestern empfinde. Wie vor 100, 150 Jahren, als in den sudetendeutschen Grenzgebieten, ja in ganz Böhmen nicht als „Tschechen“ oder „Deutsche“ etikettierte Personen zusammenlebten und miteinander verkehrten, sondern einfach Nachbarn. Nachbarn, die sich über die trennende Sprache hinaus verstanden.

* Wolftraud de Concini, Böhmen hin und zurück, Weitra: Verlag Bibliothek der Provinz 2014

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