Freitag, 11. Dezember 2015

Das Freiheitsfest – ein Zeichen für künftige Generationen, dass nicht die Rote Armee Pilsen befreite

Nachdem die Stadtschreiberzeit von Wolftraud de Concini leider vorüber ist, bloggen auf ihrer Seite bis Ende des Jahres Schülerinnen des Geschichtslehrers Antonín Kolář über verschiedene Pilsener Themen. Das Projekt wurde initiiert vom Tschechischen Zentrum Berlin und vom Deutschen Kulturforum östliches Europa. 

»Also damals, fünfundvierzig, als Patton Pilsen befreite, mit Panzern und Kanonen und Jeeps mit weißen Sternen und die Mädels aus den Škoda-Werken wie bunte Flügel tanzten und die lokalen Schönheiten im Chor sangen: Škoda lásky‹*.« Dieser Refrain stammt aus einem in Pilsen jedem bekannten Song des Liedermachers Jan Vyčítal, der populär wurde und niemanden darüber im Unklaren ließ, dass Pilsen von der US-Armee befreit worden war, auch wenn diese Tatsache in den Zeiten des Kalten Krieges nicht immer in den Schulen gelehrt wurde.

Tereza Brožová, Masaryk-Gymnasium Pilsen

Historisches Foto vom Mai 1945
 archiv Patton Memorial Pilsen
 »Hier spricht Pilsen, das freie Pilsen spricht! Es lebe die Freiheit, es leben unsere Verbündeten. Ich verkünde allen Bewohnern der Tschechoslowakischen Republik, dass sich auf dem Platz der Republik in Pilsen die Panzer der 16. Division befinden. Ich sah mit meinen eigenen Augen die Panzer von Westen her anrollen. Ich hörte das Dröhnen der Panzermotoren. Ich reichte einem amerikanischen Offizier die Hand. Ich habe eine amerikanische Unterhaltung gehört. Nach sechs Jahren der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft sind wir frei. Amerikanische Panzer sind auf dem Platz der Republik. Hier spricht Pilsen, das freie Pilsen spricht.«
So ertönten am 6. Mai 1945 im Äther die Worte von Karl Šindler, dem späteren Direktor von Radio Pilsen. Einen Tag zuvor hatte er zusammen mit anderen Teilnehmern am bewaffneten Aufstand gegen die deutschen Besatzer den Rundfunk besetzt, um den Menschen Flugberichte durchzusagen.


Es lebe die Tschechoslowakei! Es ist der 6. Mai 1945, Viertel vor neun in der Früh, Pilsen erwacht nach dem Aufstand am Vortag und begrüßt begeistert die anrollenden Panzer der Befreier auf dem Platz der Republik. Die amerikanischen Einheiten bringen den Bewohnern Pilsens zusammen mit der ersehnten Freiheit auch Kostproben des Lebens auf der anderen Seite des Atlantiks. Die Kinder bekommen aus den Händen der Helden ihre ersten Kaugummis und Schokoladen, die Erwachsenen genießen die duftenden Züge amerikanischer Zigaretten.
Historisches Foto vom Mai 1945
Archiv Patton Memorial Pilsen

Nicht weit von Pilsen endet der lange Weg der amerikanischen Soldaten, den sie am 6. Juni 1944 mit der Landung an den Stränden der Normandie begonnen haben. General George S. Patton hatte geplant weiterzuziehen, um die Hauptstadt Prag, die zum Zeitpunkt des auch dort stattfindenden Aufstands flehentlich um Hilfe bat, zu befreien. Allerdings stand Patton eine auf der Konferenz von Jalta ausgehandelte Demarkationslinie im Weg, die das tschechoslowakische Territorium zwischen westlichen und östlichen Befreiern aufteilte. Die amerikanischen Soldaten verließen Pilsen am 20. November 1945. Mit ihnen gingen auch viele Pilsener Frauen. Nach 1948, während der Zeit des Kalten Krieges, fing man allerdings an, die Geschichtsschreibung zu verfälschen.

Es begann eine Ära der Charakterbrüche und der Gehirnwäsche. Den Zeitzeugen jedoch bleiben trotz des beinahe fünfundvierzigjährigen Verschweigens der Wahrheit die Amerikaner für immer als Befreier im Gedächtnis. Man darf nur nach 1948 nicht laut darüber sprechen. In den Schulklausuren bekommen nur diejenigen Einsen, die die Tests, oft unwissentlich, falsch ausgefüllt haben. Laut Lehrbuch war die Rote Armee der einzige Befreier der Tschechoslowakei und das hat auch die Lehrerin gesagt, weil es irgendein Parteisekretariat befohlen hatte. Die amerikanischen Imperialisten sind böse und schicken zu uns Flugzeuge mit Kartoffelkäfern, um unsere Ernte zu zerstören, damit wir Hunger leiden. Die Eltern schweigen, sie wollen sich oft ihr auch so schon schwieriges Leben nicht noch komplizierter machen. Auch die Lehrerin schweigt, sie möchte ihre Arbeit nicht verlieren. Mit Humor kommentiert diese Situation eine Strophe aus Vyčítals Lied:
»Vor ein paar Jahren flog ein Kumpel aus seinem Betrieb, sie hatten ihn auf’m Kieker gehabt, weil er Blumen ans Denkmal gelegt hatte**, aber er sagte sich, die sollen mir doch den Buckel runterrutschen. Dass es ihm schnuppe sei und es nicht weh tue, aber nur bis zu dem Augenblick, als sein Mädchen aus der Schule kam und meinte, nur die Rote Armee habe uns befreit. Er ging ins Lehrerzimmer und neben den Schriften von Marx stehend sagte er zu der Paukerin, dass sie von ihm eine glatte Sechs in Geschichte kriege, und falls sie es wünsche, würde er ihr das Sofa zeigen, auf dem diese Burschen damals in Badehose von Coca-Cola und heißen Würstchen träumten, ich singe darüber einen Song und es ist ein Thema für einen Roman.«
Historisches Foto vom Mai 1945
 archiv Patton Memorial Pilsen

Eine Veränderung kam erst nach der Samtenen Revolution 1989. Seit 1990 wird Pilsen jährlich zum Ort, an dem sich unter Mitwirkung von US-amerikanischen Kriegsveteranen und ihren Familien, der Bürger der Stadt und weiteren Gästen gemeinsam der Ereignisse vom Mai 1945 erinnert wird. Nicht fehlen dürfen auf dem traditionellen Freiheitsfest Gespräche mit Veteranen, der Konvoi historischer Fahrzeuge, genannt Convoy of Liberty, Projekte von militärgeschichtlichen Klubs oder Gedenkakte an den Denkmälern des Zweiten Weltkriegs. Die Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten im Mai laufen das ganze Jahr über. Die Organisatoren verabreden das genaue Veranstaltungsprogramm, sammeln Geld für das Sponsoring, und die Mitglieder der militärgeschichtlichen Vereine entscheiden in ihren Sitzungen über die Lösung aktueller Probleme.

»In den Klub der Militärgeschichte bin ich dank eines Bekannten gelangt und im Laufe der Zeit habe ich mir auf tschechischen wie internationalen Trödelmärkten eine Uniform zusammengesucht«, schildert Jan Foud, ein Teilnehmer des Freiheitsfests, und beschreibt seine Erlebnisse bei den Vorbereitungen: »Mit einem etwa viermonatigen Vorlauf werden die Kulissen hergestellt, vier Tage vor der offiziellen Eröffnung bauen wir dann stilgerechte Kamps auf, was meistens eine Herausforderung ist.«



Convoy of Liberty
Foto © A. Kolář

Das diesjährige Freiheitsfest wurde gleich von einem doppelten Hauch von Einzigartigkeit umweht. Am achten Mai feierten wir den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs und Pilsen genoss zugleich seinen Titel als Kulturhauptstadt Europas. Das Freiheitsfest wurde in das Kulturhauptstadtprogramm eingebettet. »Das Jubiläum der Befreiung Pilsens findet vom 1. bis 6. Mai 2015 statt und bietet ein reichhaltiges Programm aus traditionellen Veranstaltungen und Neuheiten. Wie jedes Jahr haben die Besucher die Möglichkeit der Teilnahme an Gesprächen mit Veteranen, der Besichtigung historischer Camps in Proluka, in den anliegenden Křižíkovy sady (Křižík-Park), in den Räumlichkeiten des OC Plaza und, neu in diesem Jahr, auch im Borský park, wo am Nachmittag des 1. Mai die nachgestellten Szenen der Ankunft der US-amerikanischen Armee in Pilsen und des Aufbaus des amerikanischen Lagers aufgeführt werden. Am Abend findet die feierliche Enthüllung des Denkmals für General Patton statt. Anschließend folgt der erste Auftritt der Band Lynyrd Skynyrd in der Tschechischen Republik«, so lockte Jan Foud die Besucher. An den darauffolgenden Festtagen gab es unter anderem auch eine Show zur Erinnerung an die Befreiung Pilsens, den Convoy of Liberty, ein Konzert der Pilsner Jazz Band und ein Fußballspiel zwischen einer Altherrenauswahl des FC Viktoria Pilsen und Mitgliedern der militärhistorischen Klubs in US-amerikanischen Uniformen. Das Spiel sollte an den 24. Mai 1945 erinnern, als die Pilsener Fußballmannschaft gegen die Elf der amerikanischen Armee antrat. »Viktorka« gewann damals 11:1 auf einem auf die Schnelle vorbereiteten Platz in der Luční-Straße, vor den Augen von elftausend Zuschauern, die auf einer halbzerstörten Tribüne standen.

Convoy of Liberty
Foto © A. Kolář
Pilsen war wieder voll der Erinnerungen, über die auch Jan Vyčítal in seinem Lied singt. Seine Zeilen sind weder verboten noch zensiert, sie sind ein Spiegel unserer Geschichte:
 »Ich hab in Pilsen schon ein paar Jahre einen Kumpel, ich bin immer froh, den Pilsner Dialekt zu hören, und wenn ich dorthin trampe, lass ich von mir hören. Er sagt mir, tu mal den Rucksack dorthin, auf diese Couch setz dich nicht, da darf schon über fünfundvierzig Jahre niemand mehr sitzen! Nicht mal ich sitze darauf, wenn ich Feierabend hab, da saßen im Mai amerikanische Soldaten und hier, da wo deine Füße sind, da schoben sie ihre Helme hin. Papa fischte ´ne Flasche Schnaps raus, lud ’ne Truppe Jazzer aus ihrem Versteck zu uns in die Wohnung ein, und es wurde viel Chattanooga*** gesungen … damals, fünfundvierzig, als Patton Pilsen befreite …«
Übersetzung: Kristina Veitová und Tanja Krombach


*»Schade um die Liebe«, in Deutschland auch bekannt unter dem Titel Rosamunde, basiert auf einer böhmischen Polkamelodie, wurde im Zweiten Weltkrieg zum Soldatenlied sowohl bei den Deutschen als auch bei den Amerikanern

**gemeint ist der Grundstein eines vor der kommunistischen Machtergreifung 1948 geplanten Denkmals für die US-Armee

***Chattanooga Choo Choo ist ein amerikanisches Swingstück, berühmt geworden durch Glenn Miller

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