Wenn ich mir die Zeitachse und den Wechsel der wichtigsten Pilsener Straßennamen anschaue, muss ich an Winston Smith denken. In der fiktiven Gesellschaft des Romans 1984 von George Orwell war es seine Aufgabe, die Geschichte Buch um Buch, Seite um Seite, Titel um Titel umzuschreiben. Ist der Wechsel der Straßennamen nicht auch ein solches Bemühen, die Geschichte zu verändern oder zu retuschieren? Ich denke, die Menschen sollten sich mehr für die Dinge um sie herum interessieren und in den scheinbar nichtssagenden Straßennamen nach einer Bedeutung suchen, denn wechselnde Benennungen können so manches über uns und unsere Geschichte verraten.
Von Pavla Papazianová, Masaryk-Gymnasium Pilsen
1879 Ferdinandstraße/Ferdinandova třída
1921 Straße der Tschechoslowakischen Legionen/třída Československých legií
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gehörten die Mitglieder der Tschechoslowakischen Legionen, die 1920 aus ihren Einsatzgebieten in Russland, Frankreich und Italien zurückgekehrt waren, zu den in der Gesellschaft am meisten verehrten Nationalhelden. Sie hatten nicht nur gegen einen nun besiegten Feind gekämpft, der das Land viele Jahre in den Krieg hineingezogen hatte, sondern galten vor allem als Symbol des Widerstands gegen die Habsburger Monarchie und als neues Symbol der gewonnenen staatlichen Selbständigkeit. Wichtig war das Jahr der Umbenennung dieser Pilsener Hauptstraße auch wegen der Exhumierung der hingerichteten Legionäre in Italien, zu deren Ehren in Pilsen ein feierlicher Umzug stattfand.1940 Klattauer Straße/ulice Klatovská
Die Straße bekam 1940 eine neutrale Bezeichnung. Die Namensänderung hing vermutlich mit der Besetzung der Tschechoslowakei und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren im Jahr 1939 zusammen. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, als die Tschechoslowakei durch das aggressive nazistische Deutschland besetzt war, kam ihre ursprüngliche Bezeichnung voll nationalen Heldentums nicht mehr in Frage. Den Besatzern hätte es bestimmt nicht gefallen, wenn eine der Hauptstraßen Pilsens nach Soldaten benannt gewesen wäre, die im Ersten Weltkrieg gegen sie gekämpft hatten. Die Bezeichnung wurde vermutlich aus rein geografischen Gründen gewählt, da die Straße aus Pilsen in Richtung Klattau/Klatovy führt.1943 Reinhard-Heydrich-Straße/třída Reinharda Heydricha
Im Jahr 1943 wurde die Straße nach Reinhard Heydrich benannt. Diese Bezeichnung sollte so ein Memento für die Tschechen sein und eine Erinnerung an den ermordeten stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich. Er starb 1942 nach einem auf ihn verübten Attentat im Prager Stadtteil Libeň. Seine Ermordung war sicher die bedeutendste Aktion des tschechoslowakischen Widerstandes gegen die nazistische Okkupation. Da Heydrich als eine der einflussreichsten Personen des Deutschen Reiches galt, wurde sein Tod entsprechend betrauert und seine Persönlichkeit entsprechend verherrlicht, etwa in Form der Umbenennung einer bedeutenden Pilsener Straße. Die Bezeichnung sollte den tschechischen Bewohnern eine Warnung davor sein, sich den deutschen Machthabern erneut zu widersetzen. Viele Menschen, die während der sogenannten Heydrich-Ära hingerichtet wurden, stammten aus Pilsen und auch die späteren Attentäter hatten hier nach ihrem Absprung auf das Gebiet des Protektorats ihren ersten Unterschlupf gefunden.1945 Benešov-Straße/Benešova třída
Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs musste der Straßenname erneut geändert werden. Die Straße trug fortan den Namen des Präsidenten Edvard Beneš, während der Okkupationszeit Vertreter des tschechoslowakischen Widerstands und der Londoner Exilregierung. Die Tschechoslowakei kehrte zu den Idealen der Ersten Republik zurück und die Straße wurde zum ersten Mal in ihrer Geschichte nach einer lebenden Persönlichkeit benannt. Die Straße trug den Namen von Präsident Beneš allerdings nur ein Jahr lang.1946 Wieder Klatovská
Die Benešova bekam wieder sehr schnell den neutralen Namen Klatovská. Die Erklärung dafür lag darin, dass die ersten Nachkriegswahlen stattfanden, in denen die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSČ) die meisten Mandate erhielt. Die KSČ gewann die Wahlen und zugleich wurde gemäß der Regierungsanordnung vom 27. 5. 1946 im gleichen Verhältnis die Zusammensetzung der Nationalausschüsse auf allen Stufen der Verwaltung eingerichtet. Dies bedeutete, dass auch in Pilsen die meisten Sitze der Kommunistischen Partei zufielen. Es ist bekannt, dass die KSČ Präsident Beneš nicht sehr schätzte. Deshalb kehrte man zur neutralen Straßenbenennung Klatovská zurück. Der Name von Edvard Beneš wurde getilgt und er selbst kurz nach dem kommunistischen Putsch zum Rücktritt gezwungen.1951 Straße des 1. Mai/třída 1. máje
Nach der Machtergreifung durch die Kommunisten im Februar 1948 war klar, dass eine erneute Straßenumbenennung nicht lange auf sich warten lassen würde. Ideologie und Aufbaubegeisterung spiegelten sich in der weiteren Namensänderung der Straße wider. Benannt wurde sie nach einem der wichtigsten Feiertage der damaligen Zeit, mit dem die Arbeit verherrlicht wurde. Der Erste Mai – Zeit der Liebe, aber damals vor allem der »Tag der Arbeit«, an dem Schüler, Studenten und Fabrikarbeiter verpflichtet waren, an den propagandistischen sogenannten Maiumzügen teilzunehmen. Da die Klatovská einen bedeutenden Teil der Stadt durchlief, wurde gerade sie für diese feierliche Veranstaltung bestimmt. Daran erinnert bis heute das Restaurant Májovka, auch wenn sich mittlerweile nur noch Zeitzeugen daran erinnern, dass sich der Name des Restaurants von der ehemaligen Benennung der Straße ableitet.1991 Wieder Klatovská
Die Umbenennung der Straße im Jahr 1991 entsprach dem politischen Wandel nach der Samtenen Revolution im Jahr 1989. Die Menschen lebten nicht mehr mit dem Gefühl der Angst, das sie zu den feurigen Festveranstaltungen der kommunistischen Feiertage nötigte, daher geriet die Bedeutung des 1. Mai fast abrupt in Vergessenheit. Man wollte keinen Straßennamen mehr in Verbindung mit dem kommunistischen Regime haben. Die Tschechoslowakei wurde zu einem demokratischen Land mit Václav Havel als Präsident an der Spitze. Ihren Namen trägt die Straße bis heute und es bleibt die Frage, ob es zu einer weiteren Namensänderung kommen wird. Ich nehme an, dieser kurze Abstecher in die Geschichte einer Pilsener Straße machte sichtbar, dass Straßennamen die gesellschaftliche Atmosphäre oder die Richtung einer politischen Macht reflektieren können. Ich denke, dass die Straße immer dann spezielle Namen hatte, wenn die Gesellschaft von den gleichen Emotionen bewegt war, wie im Fall der Ferdinandstraße und der Straße der Tschechoslowakischen Legionen, oder auf der anderen Seite einer totalitären Macht untergeordnet war wie im Fall der Heydrich-Straße und der Straße des 1. Mai. Und welche anderen Namen wird die heutige Klatovská weiter tragen? Ich hoffe, ihr Name bleibt ihr für eine längere Zeit erhalten.Übersetzung: Kristina Veitová und Tanja Krombach