Sonntag, 31. Mai 2015

Das Roma-Festival „Khamoro“




Eine junge Roma-Schönheit
 

 Roma bleiben unter sich

Wenn sie auf der Bühne stehen, werden sie verherrlicht und mit Beifall überschüttet: wegen ihrer schönen Stimmen, ihrer virtuosen Geigen- und Gitarrenkunst, ihrer Musik, die aus der tiefsten Seele kommt und die Seelen anrührt. So war es auch hier in Pilsen beim dreitägigen Roma-Festival „Khamoro“. Es hatte bunt und laut begonnen, mit improvisierten Auftritten und Mal- und Schmuck-Workshops im Park vor der Měšťanská beseda ...

 





... und es ging farbig und mit bester Roma-Gipsy-Musik zu Ende, mit Auftritten von Angelo Debarre & Marius Apostol aus Frankreich, der Mahala Rai Banda aus Rumänien, der Gruppe Ilo aus Russland und der tschechischen Band Kale, die die zur „Queen of Romany“ gekürte tschechische Folk-Pop-Sängerin Věra Bílá begleitete. Die Roma und ihre Vertreter wurden fotografiert, gefilmt und interviewt.


Die russische Roma-Gruppe Ilo bei der Generalprobe am Pilsner Hauptplatz
Roma stellen sich zu Interviews

Für einige Stunden gehörte das Stadtzentrum den kinderreichen, dunkelhäutigen Roma-Familien. Und die Anerkennung und Bewunderung für die Roma-Künstler auf der Bühne galt ihnen allen. Den Roma, dem stolzen, rätselhaften und doch so normalen Volk der Roma.

Inzwischen sind sie – ich meine das begeisterte Roma-Publikum – als cikáni wieder nach Hause zurückgekehrt, in ihre bescheidenen Sozialwohnungen, da sie sich – ohne Arbeit – keine schöne Mietwohnung leisten können. Und vielleicht ist es ihnen auch lieber so. Da sind sie wenigstens unter sich, und niemand beklagt sich, wenn die Musik vielleicht etwas zu laut ist und an Feiertagen gegrillt wird. 

Als hätte sie schon tausend Jahre Leiden erlebt

Auch heute, am „Evropský den sousedů“, waren sie unter sich. Der Husovo náměstí gleich neben den Škoda-Werken war einer der Plätze, an denen der Europäische Nachbarschaftstag begangen wurde. Der Hus-Platz liegt in einem Pilsner Roma-Viertel – um nicht zu sagen: Roma-Ghetto. Sicher, sie sind nicht eingeschlossen wie in einem Ghetto, können kommen und gehen, wie sie wollen. Aber sie sind ausgeschlossen aus der „normalen“ Pilsner Gesellschaft, aus dem „normalen“ Leben.


Ich war, von ein paar Organisatoren abgesehen, eine der wenigen „Weißen“, die zu diesem Fest der nachbarlichen Verständigung auf den Platz mitten im Roma-Viertel gekommen waren. Die Roma-Mütter und Großmütter waren stolz auf die ersten Tanzdarbietungen ihrer Töchter und Enkeltöchter, die Roma-Väter und Großväter verfolgten kritisch die ersten Boxkampf-Versuche ihrer Kinder und Enkel. Frauen saßen mit Frauen auf den im Kreis aufgestellten Stühlen, Männer standen mit Männern in Gruppen im Park. Und alle vergnügten sich.

Der Sport als Möglichkeit sozialen Aufstiegs
 
Der einzige Störenfried war vielleicht ich. Aber als sie merkten, dass ich Romanes verstand, hörten sie auf, mich misstrauisch anzuschauen. Doch so recht ins Gespräch kamen wir nicht. Nein, Arbeit gebe es keine für einen Roma, viele Personen lebten in kleinen Wohnungen zusammen: Mehr war aus dem jungen Mann nicht herauszubringen. 

Drei Roma-Generationen
 

Ich zitiere aus einer kürzlichen Umfrage in Tschechien: Die Anzahl der Personen, die es für richtig und möglich halten, dass alle Minderheiten gemäß ihrer überlieferten Kultur und Tradition leben sollten, ist in einem Jahr von 46 auf 31 Prozent gesunken. Mehr als zwei Drittel der tschechischen Bevölkerung möchten demnach auch den Roma das Leben als Roma – als Volk mit eigener Geschichte, eigener Kultur und eigenem Brauchtum – verbieten.

Und die anderen gut 30 Prozent? Wollten sie sich mit ihrer Antwort nur tolerant zeigen oder würden sie die Roma auch tatsächlich als gute Nachbarn akzeptieren? 






Donnerstag, 28. Mai 2015

Die Stadt als Ausstellungsraum


Budelíp – Es wird besser

Auf einer Bank in den Grünanlagen auf der Náměstí Emila Škody, dem Emil-Škoda-Platz in Pilsen, saßen während der Vernissage zwei Obdachlose. Ob sie sich von den schön blau gestrichenen und mit einem kleinen Rundfenster versehenen Mini-(Müll-)Containern auf den Arm genommen fühlten oder die ironisch-bittere Kritik der Designstudenten am tschechischen Sozialsystem verstanden? Ich bin nicht sicher, ob sie das Drumherum überhaupt interessierte. Ihnen war wohl wichtiger, dass sie beim Apéro etwas zu trinken mitbekommen hatten und niemand sie wegschickte oder diskriminierte. Das Publikum war intelligent und tolerant genug, um sie ihre Ausgrenzung nicht spüren zu lassen.

Die Ausstellung mit dem vielsagenden Titel Budelíp (Es wird besser werden“) ist Teil eines vom tschechischen Architekten Rostislav Koryčánek ersonnenen Projekts, in dessen Verlauf öffentliche Plätze und Orte mit Kunstwerken qualitativ und menschengerecht umgestaltet werden sollen. Hier auf dem Emil-Škoda-Platz, der seit der Krise der traditionsreichen Pilsner Škoda-Werke seine Funktion als täglicher An- und Abfahrtsplatz von Tausenden von Arbeitern verloren hat, fand die dritte der insgesamt sieben Veranstaltungen statt. Jiří Beránek, Benedikt Tolar und Studenten der Ladislav-Sutnar-Fakulät für Kunst und Design an der Westböhmischen Universität griffen das Thema der Obdachlosen auf – ein Problem, das in Tschechien staatlicherseits noch auf eine Lösung wartet. 

Unbefangenes Kinderspiel in einem Mini-„Asylheim“

Es gibt keine (oder zu wenige) Asylheime für Obdachlose? Wir bauen sie ihnen, sagten sich die Studenten. Mit den skurril-befremdenden, in Wirklichkeit bitterbösen Mini-Wohncontainern, in denen bei der Ausstellungseröffnung einige Kinder unschuldig-unbefangen spielten, wollten sie zum Nachdenken anregen: über die soziale Ausgrenzung (nicht nur) der Obdachlosen und (ich zitiere aus dem Ausstellungsfolder) „die undichte Schwelle zwischen der Sicherheit des eigenen Wohnens und der Unsicherheit des Lebens auf der Straße“. 

Keramikglockenspiel, im Hintergrund die Škoda-Werke

Die Unterführung vom Platz zu den Škoda-Werken

Malerei und Graffiti in der Unterführung
 
Zur Ausstellung „Es wird besser werden“ gehören auch eine aparte Keramikglockenkomposition, an die Wände der einst viel begangenen, heute heruntergekommenen und verschmutzten Fußgängerunterführung gemalte unförmige, nackte Frauenkörper und in säuberlichen Reihen angepflanzte Kartoffeln, die pünktlich zur Vernissage hätten blühen sollen. Was nicht geschehen war. Vielleicht sind die Tschechen, nach Jahrzehnten sozialistischer Kollektivwirtschaft, mit ihrem Agrarwissen etwas zurückgeblieben?

Mir hat die Ausstellung gut gefallen. Das Kunstprojekt wird in einem Monat fortgesetzt. Ich warte besonders gespannt darauf, denn es findet unter der Millennium-Brücke an der Radbuza statt. Meinem Pilsner Lieblingsfluss.


Weil ich schon dabei bin, hier noch ein paar Fotos von den farblich attraktiven Seitenmauern der Škoda-Werke:





Mittwoch, 27. Mai 2015

Bayerisch-böhmische Nachbarschaft


Obstbäume als stumme Zeugen

Grenze? Hranice? Die existiert doch nur in den Köpfen der Politiker und auf den Landkarten. Dieser Meinung ist auch Thomas Englberger. Er war gerade auf dem Sudetendeutschen Tag in Augsburg, erzählt begeistert von dem neuen, versöhnungsbereiten Trend, der sich in der Sudetendeutschen Landsmannschaft abzeichnet, und ist auf einen Sprung nach Pilsen herübergekommen. Ich hatte auf meiner letzten Rückfahrt von Italien her die Reise in Speinshart unterbrochen. Ein magischer Ort. Anregung für den Geist, Ruhe für die Seele (wie ich sie gerade in letzter Zeit besonders brauche) und Erholung für den Körper.

Thomas Englberger von der Internationalen Begegnungsstätte im Kloster Speinshart, hier in Pilsen zwischen Kamel-Brunnen und Kathedrale

Thomas Englberger ist Referent der Internationalen Begegnungsstätte im Kloster Speinshart in der Oberpfalz, in der Luftlinie nicht einmal 40 Kilometer von der deutsch-tschechischen Grenze (also doch Grenze?) entfernt. Gemeinsam mit Pater Lukas Prosch erarbeitet er das Kulturprogramm des Klosters, ein immer reicheres Programm mit Konzerten, Ausstellungen, Lesungen und Gesprächen, das den Prämonstratenserkonvent zu einem geistig-kulturellen Mittelpunkt in der Oberpfalz macht. Kultur auf internationaler Ebene, aber doch mit einem besonderen Blick auf die bayerisch-böhmische Nachbarschaft. Auch tschechische Künstler stellen hier aus, auch tschechische Musiker treten hier auf. Und da das Kloster – wiewohl 1921 von der damals rein deutschen Abtei Tepl/Tepla im heute tschechischen Westböhmen neu besiedelt – nichts direkt mit der Vertreibung zu tun hat, kann es auch heikle Themen objektiv angehen und vielschichtiger behandeln. 

Das Prämonstratenserkloster Speinshart in der Oberpfalz, rechts Pater Lukas
(Fotos: Archiv Kloster Speinshart)


Thomas Englberger erzählt begeistert von einer Wanderung vom Prämonstratenserkloster Speinshart in der deutschen Oberpfalz zum westböhmischen Prämonstratenserkloster Tepl/Tepla in Tschechien. Hundert Kilometer durch eine Landschaft, die nicht verrät, ob die Bewohner Deutsch oder Tschechisch sprechen. Hier wie dort, diesseits wie jenseits (der Grenze!) die gleichen sanften Hügel, die gleichen Haine und Sträucher und Büsche, die gleichen geduckten Dörfer, dieselben Baumeister – allen voran die aus Bayern stammenden Dientzenhofer –, die hier wie drüben prächtige Barockkirchen errichtet haben. Aber: Nur in Böhmen gibt es diese grenzenlosen, bis an den Horizont reichenden Rapsfelder, die (ein Überbleibsel der kommunistischen Kollektivwirtschaft) zur Blütezeit im Frühjahr so fotogene Motive abgeben. 

 
Rapsfelder im Gebiet von Pilsen

Und nur in Böhmen gibt es verfallene, da entvölkerte Dörfer. Mit heruntergekommenen Friedhöfen und schiefen, ungepflegten Grabsteinen.

 
Ein ehemals deutscher Friedhof, hier in Luková

Den Teilnehmern dieser Von-Kloster-zu-Kloster-Wanderung war eins besonders aufgefallen: dass in vielen ausgesiedelten Dörfern in Böhmen zwar keine Häuser, ja oft keine Mauern mehr standen, aber doch die Bäume. Die von den ehemaligen deutschsprachigen Bewohnern gepflanzten Obstbäume. Die Tschechen als neue Herren mochten Gewalt und Zerstörungswut an Häusern, Kirchen und Gräbern ausgelassen haben. An den Menschen. Nicht an den Bäumen. Die Obstbäume als unschuldige, stumme Zeugen von Gewalt und Drama. Und wo auch im Gebiet westlich von Pilsen Mauern abgetragen und Dörfer von der Landkarte gestrichen wurden, sind oft sorgsam aneinandergereihte Obstbäume geblieben. „Die Natur hat ein Gedächtnis“, kommentiert Thomas Englberger. Und dann fährt er von Pilsen wieder nach Speinshart zurück.


P.S.: Heute habe ich wieder einmal am jüdischen Friedhof in Pilsen Halt gemacht. Für mich immer eine Emotion. Und die auf einem Grabstein wiedergegebenen Worte V OSVĚTIMI ZAHYNULI 1944 (IN AUSCHWITZ 1944 ERMORDET), die Namen der Opfer und die abgebrannten Kerzen davor bringen in ihrer Schlichtheit die ganze Tragödie des an den Juden begangenen Völkermords zum Ausdruck.




Samstag, 23. Mai 2015

Pfingsttreffen der Sudetendeutschen


Geste der Versöhnung

Eine Nachricht, die mich sehr erfreut hat: Kurz vor dem Pfingsttreffen der Sudetendeutschen an diesem Wochenende wurde von den Medien eine Notiz aufgegriffen, die auch während des 66. Sudetendeutschen Tages in Augsburg für Zündstoff sorgen wird. Bernd Posselt, CSU-Europapolitiker und Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe, verteidigte in einem Interview den Verzicht auf die „Wiedergewinnung“ der böhmischen Heimat, der Ende Februar mehrheitlich beschlossen worden war, aber auch heftige Kritik gefunden hatte.
Statt Gebietsforderungen also konstruktiver deutsch-tschechischer Dialog. Bleibt zu hoffen, dass diese Linie sich auch auf dem traditionellen Jahrestreffen in Augsburg durchsetzen kann.

Schöne Stadt – böse Geschichte


Dobřany und seine Nervenheilanstalt

Dobřany ist ein hübsches Städtchen etwa zehn Kilometer südwestlich von Pilsen. Am weiten Hauptplatz, wie er sich in Böhmen gehört, sorgfältig renovierte Häuser, in der barocken, dem heiligen Veit geweihten Rundkirche ein seltener, figurenreicher Doppelaltar, in der ebenfalls barocken Nikolauskirche am Náměstí Masaryka ein gut besuchter Sonntagsgottesdienst, eine dreibogige gotische Steinbrücke über die Radbuza, an der es sich fischen, flanieren und flirten lässt. Und ringsum blühende Wiesen und reinliche Einfamilienhäuser mit gepflegten Blumen- und Gemüsegärten. Eine wahre Idylle. Das fanden auch die Deutschen, die das Städtchen – aufgrund des Ende September 1938 geschlossenen Münchner Abkommens – Anfang Oktober 1938 besetzten und dem Reichsgau Sudetenland anschlossen. Nur der „deutsche“ Name für das tschechische Dobřany gefiel ihnen nicht: „Dobrizan“ oder „Dobrzan“ – der klang ihnen zu slawisch. Was er wohl auch war. So tauften sie das Städtchen um und nannten es „Wiesengrund“. Ein wirklich treffender Name.

Die gotische Steinbrücke über die Radbuza in Dobřany

Dieses Bild passt so recht zu der heiter-unbeschwerten Atmosphäre, mit der Pilsen als diesjährige Kulturhauptstadt sich umgeben möchte: Tanz und Theater, Kunst und Kultur in allen Formen stehen hier auf dem Programm. Die Stadt ist aufgewacht und zieht Gäste aus ganz Europa an.

Vladislav Žižka und eine Kunsttherapeutin
Ob einige der Besucher auch nach Dobřany kommen? Das Städtchen hat ein gutes Restaurant mit eigener Brauerei, in dem nicht pasteurisierte Biere erzeugt und serviert werden. Ob die Besucher, etwas abseits vom Masaryk-Hauptplatz, auch den kleinen Wegweiser zur „Psychiatrická léčebna“ sehen, zur Psychiatrischen Heilanstalt? Doktor Vladislav Žižka, der Direktor der Klinik, kommt mir freundlich entgegen, fährt mich bereitwillig über das riesige Gelände: ein 43 Hektar großer Park mit etlichen schmucken Pavillons, in denen heute an die 1200 Patienten leben.


 
Das Parkgelände der Heilanstalt Dobřany

Ein elegangter Wandelgang in der Heilanstalt Dobřany heute

Mehr als 2700 Personen waren es im Jahr 1941, als die Heilanstalt Dobřany/Wiesengrund – die damals größte der sudetendeutschen Anstalten – in das nationalsozialistische Euthanasieprogramm „Aktion T4“, die sogenannte Kinder- und Jugendlicheneuthanasie, einbezogen wurde. Sie soll, wie es in einer zeitgenössischen Chronik heißt, die „modernste, zweckmäßigste und schönste Europas“ gewesen sein, besaß außer den weiten Park- und Gartenanlagen auch Ackerland, Wiesen, einen eigenen Bahnhof und einen eigenen Friedhof. Der Bahnhof wurde zum Heran- und Abtransport der Kranken gebraucht, die aus der mittelböhmischen Heilanstalt Kosmonosy über Wiesengrund in sächsische (Pirna-Sonnenstein) und oberösterreichische Tötungsanstalten (Hartheim) überführt wurden. Und auf dem Friedhof wurden auch viele minderjährige Patienten bestattet, die der „Aktion T4“ zum Opfer gefallen waren.

Tragödie in der Tragödie: Im April 1943 wurde die Anstalt in Dobřany, da man sie für die Waffen produzierende Škoda-Fabrik hielt, von RAF-Piloten bombardiert.

Beim Lesen der Krankengeschichten, die in dem Sammelband „Die nationalsozialistische Euthanasie“* veröffentlicht sind, überläuft es einen kalt. Und ich kann, seit ich das Buch gelesen habe, das hübsche Städtchen Dobřany mit seinem weiten Marktplatz, den barocken Kirchen, der gotischen Steinbrücke über die Radbuza, den gepflegten Einfamilienhäusern und den blühenden Wiesen nicht mehr mit den Augen eines unbefangenen Touristen sehen.


P. S.: Ich muss Herrn Dr. Milan Novák, dem Mitautor meines Buches „Böhmen hin und zurück“, für die Hinweise auf die Heilanstalt Dobřany und das hier angeführte Buch danken.


* Michal Šimůnek/Dietmar Schulze (Hrsg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“ im Reichsgau Sudetenland und Protektorat Böhmen und Mähren 1939-1945, Praha: Institute of Contempory History of the Academy of Sciences Prague 2008

Freitag, 22. Mai 2015

Von Bosnien nach Pilsen


Kaffeekultur in der Bierstadt

Jetzt habe ich sie schon so oft erwähnt, dass ich endlich auch etwas mehr von ihnen erzählen muss: von „Goran“ und seinem turek.

Goran ist Goran Jozić, und sein turek ist der beste türkische Kaffee, den ich in den letzten Jahren getrunken habe. Goran Jozić ist ein heute 46-jähriger Bosnier, der 1992, in den tragischen Zeiten des Bosnienkriegs, mit seiner damals 16-jährigen Schwester in  die Tschechoslowakei gekommen ist. Geflüchtet. Die erste Etappe ist Chomutov, 1995 landet er in Pilsen. Die Stadt, eben aus den 50 Jahren der kommunistischen Ära hervorgegangen, ist alt und grau, am Wochenende menschenleer. Und noch etwas anderes betrübt Goran: dass es keinen guten Kaffee gibt. Eine halbe Tragödie für einen Bosnier, der an guten Kaffee gewöhnt ist: „Kaffeetrinken ist der bosnische Nationalsport“, kommentiert er. 

Die Passage zu Gorans Kaffeehaus

Da kommt ihm eine Idee, die sich mit den Jahren als erfolgreich erweisen sollte: Er eröffnet selbst ein Kaffeehaus, in einer Passage gleich am Hauptplatz Náměstí Republiky. In einem Haus aus dem 13. Jahrhundert, einem der ältesten hier am Platz, wo früher die Pferde für die Postkutschen gewechselt wurden. Und er beginnt Kaffee zu kochen. Italienischen Espresso und türkischen Kaffee: In eine dscheswe oder cezve, mit anderen Worten: in eines dieser innen verzinnten, langstieligen Kupferkännchen, wie sie aus keiner balkanischen, türkischen, arabischen Familie wegzudenken sind, kommen sechs bis neun Gramm Kaffeepulver, die rechte Menge für einen Deziliter Wasser. Erst wird nur die Hälfte des Wassers aufgegossen, zum Kochen gebracht und vom Feuer genommen, dann kommt die zweite Hälfte Wasser dazu. Und der Kaffee wird wieder zum Kochen gebracht. Zweimal, wenn das Wasser schon heiß war (aber niemals über 60 Grad, bitte!), dreimal, wenn das Wasser noch kalt war. Und dann heißt es sich etwas gedulden. Mindestens drei Minuten muss man warten, bis sich der Kaffee gesetzt hat. Dann darf man den Kaffee – langsam, andächtig – in eine kleine Tasse gießen, mit Würfelzucker süßen und trinken. Ich gestehe, dass ich den turek gleich nach dem Servieren trinke, weil mir der Kaffeesatz schmeckt, dieses bitter-süße Gemisch auf der Zunge. „Ja, Kaffeesatz macht schön, sagen wir in Bosnien“, fügt er galant hinzu.



Goran Jozić in seiner Kaffeerösterei

Aber Goran Jozić ist mehr als ein guter Kaffeezubereiter. Er unterrichtet auch an der Pilsner Hotelfachschule. Kaffeekultur. Die Geschichte des Kaffees, wie man Kaffee zubereitet – Espresso, türkischen Kaffee, Mokka, französischen Kaffee –, welche Gefäße man benutzen muss, wie man Kaffee trinkt. Eine geheimnisvolle Kunst für sich. Er wird lebendiger, während er erzählt, steht aber zwischendurch immer wieder auf: „Entschuldigung, ich muss aufpassen, dass der Kaffee nicht anbrennt.“ In einem kleinen Nebenraum des engen, gemütlichen Coffeehouses röstet er Kaffeebohnen selbst. Kaffeebohnen, die er aus aller Welt importiert und deren Geheimnisse er kennt. „Riechen Sie mal“, und er streckt mir die Hand entgegen, „das ist indischer Kaffee, eine besonders feine Sorte.“

 
In Gorans Café, im Vordergrund ein türkischer Kaffee

Inzwischen ist mein turek etwas ausgekühlt und ich kann ihn in aller Ruhe genießen. Die Gäste kommen und gehen, Geschäftsleute, Künstler, Intellektuelle. Freunde. „Kaffee trinkt man mit Freunden, mit jemandem, mit dem man ein Feeling hat. Diese zehn, fünfzehn Minuten Kaffeegenuss sollte man sich so oft wie möglich gönnen, mehrmals am Tag, oft im Leben“, philosophiert Goran. Und fügt hinzu: „Kaffee ist anregend, ist reiner als Bier.“ Er, der Kaffeeexperte, der in einer Bierstadt lebt, muss das ja schließlich wissen.



Donnerstag, 21. Mai 2015

Erneut zur Vertreibung


Geste der Versöhnung

Gestern Abend wollte ich gerade einen neuen Post in meinen Blog einstellen – diesmal etwas zu Gaumen- und Sinnenfreude: über mein Lieblingskaffee hier in Pilsen und mein Lieblingsgetränk (das nicht das Bier ist – die Pilsner mögen es mir verzeihen –, sondern der türkische Kaffee). Da erreichte mich eine Nachricht von Radio Prag (ich möchte allen Böhmen-Interessenten ein Abonnement der täglichen, auch deutschsprachigen Radio-Prag-Nachrichten aufrichtig ans Herz legen: www.radio.cz), die mich halb erfreute und halb schockierte. Annette Kraus, die Journalistin der deutschsprachigen Sendungen von Radio Prag, die mich vor gut zwei Wochen gerade in Pilsen interviewt hatte, berichtet darin von zwei Fakten, die sich auf die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945 beziehen (ich bin in meinen Posts schon mehrmals auf dieses Thema eingegangen).

Erfreulich die erste Notiz, die sofort von vielen deutschsprachigen Medien aufgegriffen wurde: Der Brünner Stadtrat unter Vorsitz von Oberbürgermeister Petr Vokřál hat eine „Erklärung der Versöhnung und der Zukunft“ gebilligt, in der die Zwangsaussiedlung der ehemaligen deutschen Mitbürger nach dem Zweiten Weltkrieg bedauert wird. Diese Deklaration bezieht sich besonders auf den „Brünner Todesmarsch“ Ende Mai 1945, bei dem (ich zitiere aus der Radio-Prag-Nachricht) „tausende Menschen auf Grundlage des Kollektivschuldprinzips und wegen ihrer Sprache genötigt wurden, zu Fuß ihre Stadt zu verlassen“. Rund 2.000 von den insgesamt 20.000 vertriebenen Personen überlebten diesen mehrtägigen Marsch nicht.

Schockierend, ja zumindest überraschend war für mich, die immer positiv und versöhnerisch Denkende, die zweite Nachricht: Einer kürzlich in der Tschechischen Republik durchgeführten Umfrage nach sehen 70 Prozent der Tschechen die Vertreibung der Deutschen als „unvermeidlich“ an, 61 Prozent sogar als „gerechtfertigt“. Die Gewalttätigkeiten während der Zwangsaussiedlung werden von 78 Prozent der Befragten verurteilt, aber zwei Drittel halten eine Entschuldigung für die damaligen Geschehnisse „nicht für notwendig“. Für die neue Generation allerdings sei die Vertreibung nicht akzeptabel.

Ein Vertreter der neuen Generation, die sich kritisch mit der Vertreibung auseinandersetzt, ist der schon mehrmals von mir zitierte, 31-jährige tschechische Fotograf Lukáš Houdek. Hier ein Foto aus der zur Zeit in Prag laufenden Ausstellung „Odsun/Evacuation“.


Ein Dank also dem Brünner Oberbürgermeister Petr Vokřál – in der Hoffnung, dass ihm diese seine Geste der Versöhnung bei den nächsten Wahlen keine Stimmenverluste einbringen möge – was vor gut zwei Jahren dagegen bei den tschechischen Präsidentschaftswahlen geschah: Karel Schwarzenberg, wohl der angesehenste Kandidat, verlor (auch) wegen seiner Erklärungen zu Aussöhnung und Verständigung die Stichwahlen. Als Sieger ging Miloš Zeman hervor, der Schwarzenberg gerade wegen seiner Versöhnungsbereitschaft heftig angegriffen hatte.


Mittwoch, 20. Mai 2015

Erinnerung an einen Großen


Havel’s Place in Pilsen

Sie sind so recht einladend, die zwei hölzernen Lehnstühle mit den verschnörkelten, eisernen Armlehnen im Park an der Šafaříkovy sady in Pilsen. Und dazu der ebenfalls hölzerne runde Tisch, auf dem man auch schon mal ein Bier abstellen kann. Sicher hätte Václav Havel nichts dagegen gehabt. Václav Havel, der von allen Tschechen heiß verehrte Schriftsteller und Staatspräsident? Was hat er mit diesen Gartenmöbeln hier am Rand der Pilsner Altstadt zu tun? In diesem gepflegten Park, der eine stadtbekannte Drogenszene ist?

„Havel’s Place“ in Pilsen

In Wirklichkeit handelt es sich um eine vom tschechischen Architekten Bořek Sípek ersonnene Installation zu Ehren von Havel: um Lavička Václava Havla, wie es die Tschechen nennen, um „Václav Havels Platz“. Der erste „Havel’s Place“ war im Oktober 2013 in Washington arrangiert worden, und dem amerikanischen Vorbild folgten mehrere europäische Städte: Dublin im Dezember 2013, Barcelona im Februar 2014, Prag im Mai 2014, České Budějovice im Juni 2014, Venedig (ja, auch Venedig, auf der Insel San Servolo, die früher als Sitz einer Nervenheilanstalt berüchtigt war) im September 2014, Hradec Králové am 4. Oktober 2014 und Pilsen am 30. Oktober 2014. Und es wird sicher nicht der letzte sein, da bin ich sicher.

Fast immer liegen frische Blumen auf dem in den Boden neben der Tischrunde eingelassenen Gedenkstein, der an den 1936 in Prag geborenen und 2011 in Hrádeček bei Trutnov (meiner Geburtsstadt Trautenau) verstorbenen Václav Havel erinnert. Und zwei Einheimische, die sich – um sich auszuruhen? um zu meditieren? um Havels zu gedenken? – auf den Stühlen niedergelassen haben, helfen mir bei der Abschrift von Wörtern, die in den eisernen Tischrand eingeritzt sind und die sie auswendig können: Pravda a láska musí zvítězit nad lží a nenávistí: „Wahrheit und Liebe müssen Lüge und Hass besiegen.“

Rechts die Außenmauer des Gefängnisses Pilsen-Bory, links erholsame Schrebergärten

Es sind allen Tschechen bekannte Worte aus Havels „revolutionären“ Jahren, aus seiner Zeit der Regimekritik, die ihm mehrere Jahre Haft einbrachte. Auch in Pilsen, im berüchtigten Gefängnis Bory, wo er seine bekannten „Briefe an Olga“ (seine Frau Olga Šplíchalová) verfasste und Freundschaft zum ebenfalls inhaftierten, heutigen Prager Erzbischof Dominik Duka schloss. Unter kommunistischer Herrschaft war Bory – ein Name, der bis heute noch schwer wie ein Stein wiegt – eine gefürchtete Stätte zur Umerziehung und Einschüchterung Andersdenkender. In den ersten Nachkriegsjahren waren in diesem 1874 erbauten Gebäudekoloss mit der architektonisch interessanten sternförmigen Anlage auch sudetendeutsche Häftlinge malträtiert und getötet worden. Heute haben sich einige Pilsner Familien direkt an der mit Stacheldraht gesicherten Außenwand des Kerkers Schrebergärten angelegt. Mit hübschen Holzhäuschen, bunten Blumenbeeten und Barbecues für vergnügliche Grillpartien.

Montag, 18. Mai 2015

Die „Geisterkirche“ in Luková


32 Seelen sind zurückgekehrt

 
Installation von Jakub Hadrava in der Georgskirche in Luková

Jakub Hadrava war ein junger Student an der Fakultät für Kunst und Design der Westböhmischen Universität in Pilsen, als er – auf der Suche nach einem Thema für seine Bachelorarbeit – im fast menschenleeren Dorf Luková bei Manětín nördlich von Pilsen die Kostel sv. Jiří entdeckte, die Georgskirche. Abblätternder Putz, verblasste Fresken, leere Altäre. Ein Abbild von Niedergang und Verfall. Eine Herausforderung an einen jungen Künstler.

Auch die Häuser in Luková haben schon bessere Zeiten gesehen.

Seine Mitstudentinnen unterzogen sich einer halbstündigen Tortur und ließen mit Gips durchtränkte Leinen- und Spitzenstoffe auf sich trocknen. In den unterschiedlichsten Haltungen. So hocken und kauern hier in der Georgskirche heute 32 wie verschleierte weiße Figuren, lehnen sich aneinander und kommen auf uns zu. Und wenn man recht hinhört, glaubt man sie tuscheln und ihre Gebete murmeln hören. Das bis vor Kurzem vergessene Dörfchen wird jetzt von Touristen aus aller Welt besucht, die „Geisterkirche“ bringt ihm Ruhm und hoffentlich auch Geld für die notwendigen Renovierungsarbeiten ein.

Petr Koukl, der „Wärter“ der Georgskirche in  Luková
„Bis zum Kriegsende lebten hier in Luková an die 80 bis 100 Personen“, erzählt Petr Koukl, der den Schlüssel zu der etwas erhöht über dem Dorf aufragenden Kirche hat, „heute sind es vier: meine Familie und ein 90-jähriger Mann. Übers Wochenende und im Sommer kommen ein paar Tschechen herauf, die sich hier ‚eingekauft‘ haben.“

Von den 80 bis 100 Sudetendeutschen, die bei Kriegsende aus Luková vertrieben wurden (die Sprachgrenze verlief wenige Kilometer weiter östlich), sind jetzt 32 Seelen wieder in ihr Heimatdorf zurückgekehrt, in ihre Dorfkirche, in der sie immer gebetet hatten.

Věřící“ (Gläubige) ist der Titel, den Jakub Hadrava, der junge Designer mit langen Haaren und Intellektuellenbrille, seinen Installationen gegeben hat. Für viele Besucher aber sind die 32 weißen, gesichtslosen Geistergestalten in Luková mehr als ein effektvolles Kunstwerk. Sie sind ihnen tragische Erinnerung an die tragischen Zeiten der Aussiedlung der Deutschen aus Böhmen.

Blick von der Empore in den Innenraum der Georgskirche in Luková



 
 „Gläubige“ in der Georgskirche in Luková


P.S.:
In Prag, in der Artinbox Gallery, ist in diesen Tagen die Ausstellung „Odsun“ (Vertreibung) eröffnet worden. Der tschechische Fotograf Lukáš Houdek (der sich seit mehreren Jahren mit dieser Frage auseinandersetzt) und der französische Fotograf Philippe Dollo zeigen darin, bis zum 12. Juni, Werke zum Thema der Aussiedlung der Deutschen aus Böhmen.


Telefonische Anmeldung zum Besuch der Georgskirche in Luková: +420 606 169 636





Begegnungen am Rande (2)


Lenka und Milan

Wenn ich allein beim Frühstück sitze, kommen sie, manchmal noch etwas zerzaust, und setzen sich zu mir. Gelegentlich bringt Milan mir auch einen extra zubereiteten Espresso mit. Und dann fangen sie an zu erzählen. „Wissen Sie, dass meine Mutter in der Ukraine geboren ist?“, beginnt Milan, und „In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Tschechen in die ukrainischen Grenzgebiete gerufen worden, hatten dort Land und Haus bekommen“, ergänzt Lenka. So waren tschechische Dörfer entstanden, mit regem kulturellem Leben, Schulen, Theater.

 
Milan Peřka und Lenka Peřková in Rokycany

Milan und Lenka sind die reizenden Inhaber der Pension Le & My in Rokycany, in der ich drei Wochen logiert habe, in einem hübschen Zimmer, von dem ich nur Dächer, Einfamilienhäuser und Gärten sah. So recht eine Schreibstube.

„Nach dem Zweiten Weltkrieg“, erzählen sie weiter, „konnten die Tschechen wieder in die Tschechoslowakische Republik zurück.“ Es wurden Konvois der Rückkehrwilligen organisiert, auch zur Wiederbesiedlung der von den Sudetendeutschen verlassenen Dörfer. „Mein Großvater schlief die ganze Zeit bei einer Kuh und zwei Pferden im Zug, er hatte auch – wie sagt man? – ja, er hatte eine Heugabel bei sich, um sich gegen Diebe zu wehren.“

Vor einigen Jahren hat Milan mit seinem Sohn und der Großmutter eine Reise in die Ukraine gemacht. Und die Mutter kannte sich noch aus: Hier habe der und der gewohnt, dort habe es ein Gasthaus gegeben, da drüben die Schule. Auch ihr Haus stand noch, „meine Mutti redete mit dem Haus“. Aber keine Spur von tschechischen Gräbern auf dem Friedhof. Bis sie im Wald, unter stacheligen Sträuchern und wucherndem Gras, den alten tschechischen Friedhof fanden. Und einen umgestürzten Grabstein mit den Namen ihrer Vorfahren. „Meine Mutter hat in einem Kübel Gras und Wasser mitgenommen, bis in die Tschechei, hat Gras und Wasser dann auf den Friedhof hier gebracht.“ Und Milan, der sich sonst cool gibt, bekommt feuchte Augen.

Wie die Sudetendeutschen, die wieder in ihre jetzt tschechischen Heimatdörfer zurückkehren und nach Wohnhäusern, der Schule, der Kirche und den Gräbern auf dem Friedhof suchen, so fahren Tschechen wieder in ihre heute ukrainischen Heimatdörfer und suchen nach Wohnhäusern, der Schule, der Kirche und den Gräbern auf dem Friedhof. Ähnliche Schicksale. Nur unter anderen Vorzeichen.

Lenka und Milan vor ihrer Pension in Rokycany
Lenka und Milan sprechen beide recht gut Deutsch, dieses sympathisch gefärbte Deutsch der Tschechen, das weich ist wie böhmische Semmelknödel. Und sie waren immer bereit, mir zu helfen. Beim Tierarzt oder beim Automechaniker oder in der Apotheke – was man eben so braucht, wenn man allein in einem Land unterwegs ist, dessen Sprache man nicht gut kann. Immer waren sie bereit – ehrlich gesagt: fast immer. Denn wenn Eishockey oder Fußball gespielt und im Fernsehen übertragen wurde, musste ich bis zum Endpfiff warten, bevor Milan anzusprechen war.

Na shledanou, Lenko a Milane!