Dienstag, 31. März 2015

Reisefieber

Eine Weintrinkerin bekehrt sich 

Und so übe ich, eine passionierte Weintrinkerin, mich inzwischen im Biertrinken. Inzwischen, das heißt vor dem Antritt meiner Stelle als „Stadtschreiberin“ in Pilsen/Plzeň 2015. Denn es wäre ein Affront für die Kulturhauptstadt Europas 2015, wenn gerade die eben vom Deutschen Kulturforum östliches Europa gekürte Stadtschreiberin sich im weltweit als „Stadt des Biers“ bekannten Pilsen/Plzeň als Liebhaberin des Rebensaftes präsentieren würde.

Aber vor meiner Abreise aus dem italienischen Trentino, meiner zweiten Heimat, ins tschechische Böhmen, meine erste Heimat, übe ich mich, wie gesagt, im Biertrinken. Und hole Informationen über die verschiedenen Biersorten ein, besonders natürlich über das Pilsner Urquell, ein untergäriges Bier, das den Namen Pilsens in alle Welt getragen hat. Ein Name – „Bierstadt Pilsen“ –, der ein allzu einseitiges Bild von dieser westböhmischen Stadt vermittelt. Eine Klischeevorstellung, die ich durch meine Blogbeiträge revidieren möchte. Denn Pilsen, europäische Kulturstadt 2015, ist mehr als sein Bier.

Ich hole Notizen über die Minderheiten ein – Deutsche, Juden, Roma –, die in Pilsen lebten und leben, über die verlassenen Dörfer, die nach der Vertreibung der Deutschen im Jahr 1945 zurückgeblieben und heute teilweise verfallen sind, über die Interieurs, die der österreichische, aus Brünn gebürtige Architekt Adolf Loos (1870–1933) in der Stadt entworfen hat, aus der seine dritte Frau, die Fotografin Claire Beck/Klará Becková stammte. Und ich informiere mich über das vor wenigen Monaten eröffnete „Nové divadlo“, das architektonisch gewagte „Neue Theater“, das dem Pilsner Theaterleben neuen Auftrieb gegeben hat, über Jiří Trnka (1912–1969), den unvergesslichen,  aus Pilsen stammenden Schöpfer von Puppen- und Zeichentrickfilmen, dem die Stadt eine Ausstellung widmet.

Jetzt bemerke ich, dass ich vergessen habe, mich vorzustellen: Ich bin 1940 als Wolftraud Schreiber in Trautenau/Trutnov im nordöstlichen Böhmen geboren, wurde am 8. Juni 1945 von den Tschechen aus meiner böhmischen Heimat vertrieben, lebte dann in einem niedersächsischen Bauerndorf, in München und in Rom, arbeitete bei der „Nürnberger Zeitung“ in Nürnberg. 1964 bin ich nach Italien gezogen, ins norditalienische Trentino, zwischen Bozen und dem Gardasee. Mein Vater kämpfte hier im Ersten Weltkrieg als k.k.-Soldat. Und ich kehre jetzt in meine böhmische Heimat zurück. So schließt sich der Kreis.

In Pilsen werde ich in einem Häuschen in der Sady 5. května wohnen. Der Name der Straße erinnert an den 5. Mai 1945, als amerikanische Truppen die Stadt von der deutschen Besatzung befreiten. Einen Monat vor meiner Zwangsaussiedlung aus Böhmen. Als ich auf dem tschechisch-deutschen Ausweisungsbefehl Wolftraud Schreiberová heiße: „Schreiberin“ hätte man früher gesagt. Als wäre ich für die Stelle einer (Stadt-)Schreiberin prädestiniert gewesen.

In Pilsen will ich mich umhören und umsehen, will über das heutige, vitale Kulturleben schreiben, die der Kulturhauptstadt Pilsen neuen Glanz und neue Glorie geben sollen – geben werden: Davon bin ich überzeugt. Aber ich möchte auch von alltäglichen Begegnungen berichten: vielleicht mit einer Bauersfrau, die auf dem Markt am riesigen Hauptplatz Náměstí Republiky ihren Ziegenkäse anbietet, mit einem Kneipenbesitzer, der mir ein frisch gezapftes Bier auftischt. Na dann „Na zdraví!“


Und das bin ich: ein Doppelporträt, ich mit mir selbst im Arm.
Ich heute in Italien und ich vor 73 Jahren in Böhmen, 
als trotzige Zweijährige, auf einem Foto aus dem Sommer 1942.
















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