Eine Weintrinkerin bekehrt
sich
Und so übe ich, eine passionierte Weintrinkerin, mich inzwischen im Biertrinken. Inzwischen, das heißt vor dem Antritt meiner Stelle als „Stadtschreiberin“ in Pilsen/Plzeň 2015. Denn es wäre ein Affront für die Kulturhauptstadt Europas 2015, wenn gerade die eben vom Deutschen Kulturforum östliches Europa gekürte Stadtschreiberin sich im weltweit als „Stadt des Biers“ bekannten Pilsen/Plzeň als Liebhaberin des Rebensaftes präsentieren würde.
Und so übe ich, eine passionierte Weintrinkerin, mich inzwischen im Biertrinken. Inzwischen, das heißt vor dem Antritt meiner Stelle als „Stadtschreiberin“ in Pilsen/Plzeň 2015. Denn es wäre ein Affront für die Kulturhauptstadt Europas 2015, wenn gerade die eben vom Deutschen Kulturforum östliches Europa gekürte Stadtschreiberin sich im weltweit als „Stadt des Biers“ bekannten Pilsen/Plzeň als Liebhaberin des Rebensaftes präsentieren würde.
Aber vor meiner Abreise aus dem italienischen Trentino,
meiner zweiten Heimat, ins tschechische Böhmen, meine erste Heimat, übe ich
mich, wie gesagt, im Biertrinken. Und hole Informationen über die verschiedenen
Biersorten ein, besonders natürlich über das Pilsner Urquell, ein untergäriges
Bier, das den Namen Pilsens in alle Welt getragen hat. Ein Name – „Bierstadt
Pilsen“ –, der ein allzu einseitiges Bild von dieser westböhmischen Stadt
vermittelt. Eine Klischeevorstellung, die ich durch meine Blogbeiträge
revidieren möchte. Denn Pilsen, europäische Kulturstadt 2015, ist mehr als sein
Bier.
Ich hole Notizen über die Minderheiten ein – Deutsche,
Juden, Roma –, die in Pilsen lebten und leben, über die verlassenen Dörfer, die
nach der Vertreibung der Deutschen im Jahr 1945 zurückgeblieben und heute
teilweise verfallen sind, über die Interieurs, die der österreichische, aus
Brünn gebürtige Architekt Adolf Loos (1870–1933) in der Stadt entworfen hat,
aus der seine dritte Frau, die Fotografin Claire Beck/Klará Becková stammte.
Und ich informiere mich über das vor wenigen Monaten eröffnete „Nové divadlo“,
das architektonisch gewagte „Neue Theater“, das dem Pilsner Theaterleben neuen
Auftrieb gegeben hat, über Jiří Trnka (1912–1969), den unvergesslichen, aus Pilsen stammenden Schöpfer von Puppen-
und Zeichentrickfilmen, dem die Stadt eine Ausstellung widmet.
Jetzt bemerke ich, dass ich vergessen habe, mich vorzustellen: Ich bin
1940 als Wolftraud Schreiber in Trautenau/Trutnov im nordöstlichen Böhmen
geboren, wurde am 8. Juni 1945 von den Tschechen aus meiner böhmischen Heimat
vertrieben, lebte dann in einem niedersächsischen Bauerndorf, in München und in
Rom, arbeitete bei der „Nürnberger Zeitung“ in Nürnberg. 1964 bin ich nach
Italien gezogen, ins norditalienische Trentino, zwischen Bozen und dem
Gardasee. Mein Vater kämpfte hier im Ersten Weltkrieg als k.k.-Soldat. Und ich
kehre jetzt in meine böhmische Heimat zurück. So schließt sich der Kreis.
In Pilsen werde ich in einem Häuschen in der Sady 5. května wohnen. Der Name
der Straße erinnert an den 5. Mai 1945, als amerikanische Truppen die Stadt von
der deutschen Besatzung befreiten. Einen Monat vor meiner Zwangsaussiedlung aus
Böhmen. Als ich auf dem tschechisch-deutschen Ausweisungsbefehl Wolftraud
Schreiberová heiße: „Schreiberin“ hätte man früher gesagt. Als wäre ich für die
Stelle einer (Stadt-)Schreiberin prädestiniert gewesen.
In Pilsen will ich mich umhören und umsehen, will über
das heutige, vitale Kulturleben schreiben, die der Kulturhauptstadt Pilsen
neuen Glanz und neue Glorie geben sollen – geben werden: Davon bin ich
überzeugt. Aber ich möchte auch von alltäglichen Begegnungen berichten:
vielleicht mit einer Bauersfrau, die auf dem Markt am riesigen Hauptplatz
Náměstí Republiky ihren Ziegenkäse anbietet, mit einem Kneipenbesitzer, der mir
ein frisch gezapftes Bier auftischt. Na dann „Na zdraví!“
Und das bin ich: ein Doppelporträt, ich mit mir selbst im Arm.
Ich heute in Italien und ich vor 73 Jahren in Böhmen,
als trotzige Zweijährige, auf einem Foto aus dem Sommer 1942. |
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