Freitag, 7. August 2015

Schreib einen Namen

Die Namen auf den Steinen am Holocaust-Mahnmal erinnern an tragische Schicksale Pilsener Juden

Wie Sie in Wolftraud de Concinis letztem Blogbeitrag vor ihrer Sommerpause lesen konnten, bloggen hier im August Schülerinnen von Antonín Kolář, Masaryk-Gymnasium Pilsen. Das Projekt wurde initiiert vom Tschechischen Zentrum Berlin und vom Deutschen Kulturforum östliches Europa. Heute: Pavla Papazianová

Unter dem Motto „Den Toten können wir nicht helfen. Aber wir können uns zumindest moralisch an ihre Seite stellen“ fand in den Tagen von 17. bis 20. Oktober 2014 eine Veranstaltung statt, deren Ziel es war, Inschriften auf mehr als zweieinhalbtausend Steinen mit Namen der Holocaustopfer aus Pilsen und seiner Umgebung zu erneuern. Der Sinn des Projekts war, der Stadt Pilsen die Namen dieser Menschen zurückzugeben – Männer, Frauen und Kinder, die gewaltsam verschleppt, gefoltert, ermordet wurden und die man fast vergessen hat.

An der Wiederherstellung des Denkmals „Garten der Erinnerungen“ beteiligten sich auch Schüler des Masaryk-Gymnasiums.
Lily Abelesová. Würde ich diesen Namen einem Durchschnittsbürger nennen, würde er diesem höchstwahrscheinlich nichts sagen. Für mich persönlich hat er aber von einem gewissen Augenblick an eine besondere Bedeutung bekommen. Würde ich den historischen Pilsener Kontext andeuten, würde man wahrscheinlich zu hören bekommen: Schriftstellerin? Sängerin? Schauspielerin? Die Frau eines bedeutenden Politikers? Alles irreführende Vermutungen. Denn Lily Abelesová war ein Dienstmädchen.
Der Name des Pilsener Dienstmädchens, das während des Holocausts in Izbica ermordet wurde

Der eine wäre erleichtert, noch nicht unter die Geschichtsbarbaren zu gehören, weil er vielleicht eine bedeutende Persönlichkeit unserer Weltgeschichte vergessen hat. Ein anderer würde sich fragen, worin denn wohl mein Interesse an dieser Person besteht. Würde ich euch den ganzen historischen Zusammenhang ausführen, würde sich der Name leider in eine Nummer verwandeln, die sich dann, wie ein Fischlein im Meer, in sechs Millionen anderen Nummern verlieren würde. Ja, über sechs Millionen Juden sind während des Zweiten Weltkrieges in den Konzentrationslagern umgekommen. Das ist die bekannte historische Formel, in die man nur schwer all den Verlust, den Schmerz und das Leiden konkreter Schicksale hineinzwängen kann. Die Zahl ist so groß, dass sie unser Vorstellungsvermögen übersteigt, das für manche bereits hinter der Grenze unserer Stadt endet.

Alle haben vor dem Abtransport ihr Zuhause verlassen und die Tür hinter sich zugemacht.
Lasst uns also direkt auf Pilsen schauen. Wir müssen uns bewusst werden, dass es zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nur etwa 120.000 Einwohner zählte. Wenn man also sagt, dass insgesamt 2.613 jüdische Bürger in einem von den drei Transporten im Jahr 1942 weggebracht wurden, handelt es sich dabei ungefähr um jede fünfzigste Person. Mehr als 1.800 von ihnen sind nie wieder nach Hause zurückgekehrt. Ihr Tod war jedoch nicht nur für sie eine Tragödie. Zusammen mit ihnen litten ihre Familie, Freunde, Bekannte. Wie viele meiner Freunde und Klassenkameraden würden verschwinden, wenn der Völkermord heute stattfinden würde? Oder wäre ich selbst Opfer? Niemand kann ahnen, wer ihm in nächster Zeit Feind wird.

Das symbolische Denkmal soll dafür sorgen, dass das Verschwinden der Pilsener Juden nicht vergessen wird. Jeder Stein erzählt symbolhaft das tragische Schicksal eines Menschen.
Lily bin ich während der Veranstaltung „Schreib deinen Namen“ im Rahmen des Projektes „Anděl fest/Engelfest“ begegnet. Lily Abelesová wurde am 2. November 1924 geboren. Heute könnte sie eine stolze Oma sein, die friedlich ihr Alter genießt, sie könnte sich bei den Nachbarn ihrer schönen Enkelkinder rühmen. Stattdessen wissen wir nicht viel über sie, es bleiben uns nur ein paar statistische Daten aus den Transportdokumenten. In Pilsen lebte dieses junge Mädchen in dem Haus in der Straße Klatovská třída Nr. 22, wo sie als Dienstmädchen arbeitete; am 22. Januar 1942 fuhr sie mit dem Transport mit dem Zeichen S nach Theresienstadt, wo sie am 24. Januar 1942 ankam. Hier blieb sie nicht mal einen Monat. Mit dem Transport Aa wird sie von Theresienstadt nach Izbica überführt; hier endet ihre Spur.

Ich halte es für wichtig, die Nummern in Namen zu verwandeln. Aber anhand einiger, auch weniger Beispiele kann man die Fakten in Emotionen verwandeln, die ich zum Verständnis dieses Themas für notwendig halte, auch um zu vermeiden, dass sich derartige Grausamkeiten wiederholen. Dazu werden aber Leute gebraucht, denen es nicht egal ist, wo sie leben und was sich um sie herum abspielt. Zu solchen Menschen gehören die Mitglieder des Vereins Humr o.s. stehen: Sie haben in den Räumlichkeiten der sogenannten Jüdischen Schule bei der Alten Synagoge an der Smetana-Promenade/Smetanovy sady einen Gedenkplatz geschaffen, um an die tragischen Schicksale der zweieinhalbtausend Pilsener Opfer der Shoah zu erinnern.



Übersetzung aus dem Tschechischen: Kristina Veitová

Donnerstag, 6. August 2015

Wir gestalten die Stadt gemeinsam!

Ehrenamtliche Aktivitäten im Rahmen von Pilsen – Kulturhauptstadt Europas 2015

Wie Sie in Wolftraud de Concinis letztem Blogbeitrag vor ihrer Sommerpause lesen konnten, bloggen hier im August Schülerinnen von Antonín Kolář, Masaryk-Gymnasium Pilsen. Das Projekt wurde initiiert vom Tschechischen Zentrum Berlin und vom Deutschen Kulturforum östliches Europa. Heute: Helena Matějková

Im Rahmen der Vorbereitung auf das Projekt Kulturhauptstadt Europas 2015 halfen Freiwillige, die Stadt auszubessern, zu reinigen und zu verschönern. Neben verschiedenen Einsätzen im öffentlichen Raum umfasst das Projekt auch soziale, kulturelle und weitere Aktivitäten. Sie sollen der Stadt mehr Farbe verleihen, einen Beitrag zum besseren Zusammenleben der Bewohner und gemeinsame Werte teilen, die häufig durch Vorurteile, Vergessen und Unachtsamkeit verdeckt werden.

Mit dem Übergang ins Jahr 2015 wurde Pilsen Kulturhauptstadt Europas und öffnete so seine Tore sowohl für Besucher als auch für Künstler aus der ganzen Welt. Im Laufe des Jahres finden in der Stadt und ihrer Umgebung nicht nur kulturelle und musikalische Veranstaltungen statt, sondern auch Bildungsvorträge und Seminare. Um dafür zu sorgen, dass alles so verläuft wie geplant, reichten die Mitarbeiter des Organisationsteams nicht aus. Unsere Stadt brauchte eine beträchtliche Verstärkung durch ehrenamtliche Helfer. Daher haben sich die Pilsener und ihre Nachbarn bereits vor Jahren an ehrenamtlichen Aktionen beteiligt. Eine von ihnen ist der Klub der Schutzengel.


Das Anděl Fest/Engelfest, stand unter dem Motto „Wir schaffen gemeinsam Kultur.“


Der Klub der Schutzengel empfing alle, die bei der Vorbereitung, Organisation und Koordination der Veranstaltungen von Pilsen 2015 mit anpacken wollten, mit offenen Armen. Bei dem vielfältigen Angebot findet jeder eine Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen. Vom erlebnishungrigen Mittelschüler bis hin zur sympathischen Rentnerin, die ihre Heimatstadt unterstützen möchte.

Freiwillige strichen Stadtbänke an.
Bereits im letzten Jahr, als die Vorbereitungen auf Hochtouren liefen, fanden unzählige wunderbare Veranstaltungen statt. Beispielsweise das Festival „6 Wochen Barock“ als Vorgeschmack auf die diesjährigen „9 Wochen Barock“ oder der Gastaufenthalt des französischen Karussells Le Manège Carré Sénart, bei dessen von Lichtprojektionen auf die St. Bartholomäuskirche begleiteter Inbetriebnahme die Ehrenamtlichen zur Belohnung mitfahren durften. Die größte Veranstaltung der Freiwilligen war das Festival Anděl Fest/Engelfest, das unter dem Motto stand: „Wir schaffen gemeinsam Kultur.“ In ganz Pilsen wurden Parks gereinigt, Unterführungen gestrichen, barrierefreie Zugänge zu verschiedenen Räumlichkeiten für Rollstuhlfahrer geschaffen oder alte Sitzbänke mit Farbe versehen. Während eines verlängerten Wochenendes im Oktober 2014, an dem dieses Festival schon zum zweiten Mal stattfand, konnte sich jeder eine Aktivität je nach persönlichem Interesse und zeitlichen Möglichkeiten aussuchen. In der Alten Synagoge hatten die Ehrenamtlichen die Möglichkeit, den „Garten der Erinnerung“ wiederherzustellen. Dabei handelt es sich um ein Denkmal, das anlässlich des 60. Jahrestages der Judendeportationen von Pilsen nach Theresienstadt entstanden war. Hier mussten insgesamt 2.600 größere Steine gereinigt und die Namen der jüdischen Opfer erneuert werden. Trotz der Rückenschmerzen der Freiwilligen, die hier eine längere Zeit halfen, war diese pietätvolle Aktion ein sensationeller Erfolg.

Auch an der Erneuerung des Denkmals „Garten der Erinnerung“ neben der Alten Synagoge beteiligten sich Freiwillige.

Ich hatte mich im August 2014 bei dem Freiwilligen-Programm angemeldet. Es dauerte nicht lange, bis ich zum ersten Informationstreffen eingeladen wurde. Die Sitzung verlief in einer angenehmen Atmosphäre, der Raum war von gelber Farbe durchleuchtet, die zu einer Art Dresscode für den Tag wurde. Auch der künstlerische Leiter von Pilsen 2015, Petr Forman, stellte sich uns vor. Er erzählte uns über sein Leben und seine enge Beziehungen zu Pilsen und lud uns zur ersten offiziellen Fahrt mit dem französischen Karussell Le Manège Carré Sénart auf dem Ring ein.

Im T-Shirt der Freiwilligen
Nun saß ich, eine stolze Freiwillige, am 5. September auf einem Büffelkopf und winkte den Zehntausenden sich auf dem Platz drängenden Menschen zu. Der Büffel verdrehte die Augen, schlackerte mit den Ohren und ich genoss den wunderbaren Start meines freiwilligen Engagements für Pilsen 2015. Und mit dieser wundervollen Erfahrung war es definitiv noch nicht vorbei. Kurze Zeit später lief ich nämlich im Kulturhaus Peklo („Hölle“) zwischen dem Garderoben- und Infopult und dem Hauptsaal, in dem die Veranstaltung Naše-vaše kultura („Unsere-eure Kultur“) stattfand, hin und her. Und obwohl ich eine Freiwillige mit einem gelben Punkt auf meinem T-Shirt war, hatte ich dennoch Zeit, fremden Kulturen zu begegnen, Musik zu hören, dem Tanz exotischer Nationen zuzuschauen und ein paar Souvenirs für die zu kaufen, die nicht diese Gelegenheit hatten.

Bänke anstreichen im Borský Park

In den folgenden Monaten informierte ich unter anderem die ankommenden tschechischen und ausländischen Gäste bei der Veranstaltung „Open Up“, arbeitete am Platz der Republik beim Verleih von Rollern, strich unzählige alte Bänke im Borský Park an und ehrte das Gedenken an die jüdischen Opfer der Transporte nach Theresienstadt. Ich hatte Gelegenheit, Deutsch und Englisch zu sprechen, viele interessante Menschen kennenzulernen, eine gebratene Raupe zu probieren, meine organisatorischen Fähigkeiten zu verbessern – und habe eine Menge Spaß gehabt. Das ehrenamtliche Engagement für Pilsen 2015 füllt nicht nur meine Freizeit aus, sondern erfüllt auch mich selbst.

Die ehrenamtlichen Tätigkeiten für Pilsen 2015 sind sehr vielfältig. Interessenten können beispielsweise durch Gespräche und Verteilung von Flyern über laufende Veranstaltungen informieren, sie können bei Fragebogenaktionen helfen oder sich um die in die Stadt kommenden Künstler kümmern. Das Einzige, was einem nicht fehlen sollte, ist Begeisterung für die Sache.

Mehr Informationen zur ehrenamtlichen Mitarbeit bei Pilsen – Kulturhauptstadt Europas 2015 erhalten Sie auf www.plzen2015.cz.



Übersetzung aus dem Tschechischen: Kristina Veitová

Montag, 3. August 2015

Antonín Kolář

Der Oberschullehrer vom Masaryk-Gymnasium ist eine wahre Fundgrube

Er ist ein lebendes Internet. Du gibst ein Wort ein und er kommt mit drei, zehn, 20 Antworten. Juden? Da gibt es jüdische Friedhöfe in Spálené Pořičí und in Poběžovice und in Radnice und in Švihov und in vielen anderen Ortschaften. Roma? Dobrá Voda, ein Romadorf, aber Sie sollten nicht allein hinfahren, weil sie misstrauisch sind und Sie dort keine Kontakte bekommen. Aber ich habe eine Freundin, die … Verfallende oder verschwundene deutsche Dörfer? Výškovice ist das bekannteste, aber im ganzen Grenzgebiet gegen Bayern gibt es welche. Auch Pivoň mit dem ehemaligen Augustinerkloster. Sie können versuchen hineinzuklettern, aber es ist gefährlich.

Antonín Kolář im Café Regner

Antonín Kolář ist nicht mehr zu halten, wenn man ihn nach „Pilsnerisch-Westböhmischem“ fragt. Eine wahre Fundgrube, wenn man auf der Suche nach besonderen Notizen, Informationen und Ideen ist. Aber auch ein gescheiter, kenntnisreicher Oberschullehrer für Geschichte und Tschechisch am traditionsreichen Masaryk-Gymnasium in Pilsen.

Zu unserer ersten Begegnung hatten wir uns am „Andĕl“ verabredet, am Engelsbrunnen, der – zusammen mit dem „Kamel“ und der „Windhündin“ – dem altehrwürdigen Náměstí Republiky im Zentrum von Pilsen ein modernes Gepräge gibt. Das mir gefällt. Aber nicht allen Pilsnern. Er hatte sich am Telefon als „alter, langhaariger Mann“ angekündigt. Fast hätte ich einen Senior angesprochen, der auf diese Beschreibung passte. Dann aber kam er angeradelt: langhaarig ja, aber jung, gut aussehend, mit einem breiten Lächeln.

Wir gingen ins Café Regner, im ersten Stock eines Hauses in der Bezručova. Ich mit meinem inzwischen stadtbekannten Hund Zampa, er mit seinem Fahrrad, das er bis hinauf mitschleppte und dann auch noch an einen Heizkörper anschloss. Drei Räder seien seiner Familie seit Weihnachten gestohlen worden. Da sei er jetzt vorsichtig. Er, der begeisterte Radfahrer, der die Pilsner Stadtverwaltung kritisiert, weil sie kein Verständnis für Radfahrer habe. In Deutschland gebe es überall Radwege, hier in Pilsen werde man an jeder Kreuzung gestoppt.

Antonín Kolář mit seinem geliebten Fahrrad

Im Café saßen am Nebentisch mehrere junge Mädchen. „Das sind Schülerinnen von mir“, kommentierte Antonín Kolář. Und man sah ihnen an, wie sehr sie ihren so gar nicht professorenhaften „Herrn Professor“ verehren. Offensichtlich ist es ihm gelungen, seine Begeisterung, seinen Enthusiasmus auch auf seine Schülerinnen zu übertragen, sie mit seiner Neugier und seinem Wissensdurst anzustecken. Und ich bin sicher: Wie er von sich selbst das Höchste abverlangt, stellt er auch an sie hohe Anforderungen.

Aus diesem Wissen-Wollen heraus sind die Texte entstanden, die von seinen Schülerinnen geschrieben worden sind. Und die in meinen Blog eingegeben werden, während ich im August etwas Italienheimaturlaubsluft atme, bevor ich dann im September wieder nach Pilsen komme. Es sind Texte, denen man Antoníns Schule anmerkt, seine geschichtlichen Kenntnisse, sein menschliches Interesse, sein Feingefühl für auch heikle Fragen, sein Verständnis für Andere und Ausgegrenzte.

Wenige Tage nach unserem ersten Treffen bekam ich eine Mail von Antonín Kolář: „… zu einer Wanderung mit meinen Schülern einladen und Ihnen Schlafsack und alles dazu leihen. So lernen Sie unsere typische Wanderkultur kennen!“ Das Wetter wurde dann schlecht und die Gruppe kam nicht zusammen. Und mir, einer 75-jährigen Frau, blieb die erste Übernachtung meines Lebens in Zelt und Schlafsack unter freiem Himmel erspart. Was mich freute und auch nicht freute. Aber ich weiß eines: Antonín Kolář ist ein Chode. Und die Choden – das wissen alle hier in Westböhmen, wo sie eine eigene tschechische Volksgruppe mit eigenem Dialekt bilden, die vom Mittelalter an für ihre Wachdienste an der Landesgrenze zu Niederbayern und der Oberpfalz mit Sonderrechten ausgestattet war, – sind hartnäckig und starrsinnig. Und bei der erstbesten Gelegenheit kommt er sicher noch einmal auf sein Angebot zurück. Aber inzwischen ist er in wilden mittelasiatischen Gebirgen unterwegs, wenn er zurückkommt, fängt das Schuljahr an und dann, Ende September, fahre ich aus Pilsen weg. Endgültig. Schweren Herzens. Wer weiß, wann sich mir im Leben noch eine Gelegenheit zum Im-Zelt-im-Freien-Übernachten bietet?

Sonntag, 2. August 2015

Überleitung zu den Oberleitungen


Vom Busdepot zum Kultur-DEPO


„Das alte Busdepot war zu klein geworden und so konnte das neue DEPO entstehen.“ Was sich wie Nonsens anhört, wie ein unverständliches Wortspiel, ist ein Faktum. Zum Ausdruck gebracht von einem Topmanager, der es wissen muss: Marek Herbst ist generální ředitel – Generaldirektor – des Škoda City Service in Pilsen. Er kennt sich in städtischen Verkehrsbetrieben, Straßenbahnen, Stadt- und Trolleybussen, Schienen und Oberleitungen aus und erzählt mit ansteckender Begeisterung vom neuen Busdepot und seiner Entstehungsgeschichte.

Marek Herbst, Generaldirektor des Škoda City Service, vor dem neuen Busdepot in Pilsen

Ob ich vom Thema „Kulturhauptstadt Pilsen“ abgekommen bin? Nein, ganz und gar nicht. Denn ohne das neue Techno-Highlight des Busdepots könnte es das Kunst-DEPO2015 nicht geben, eine Kulturwerkstätte, die sich in allerkürzester Zeit zu einem Künstlertreff und einem Sightseeingtour-Muss der westböhmischen Hauptstadt gemausert hat.

Noch nicht herausgeputzt: Motiv aus dem neuen Kultur-DEPO2015
Bis 2014 waren die in Pilsen verkehrenden Busse im Betriebshof am Radbuza-Ufer geparkt und gewartet, kontrolliert und repariert worden. Doch das Gelände war zu klein, die Hallen waren alt und überholt und entsprachen nicht mehr den heutigen Sicherheitsvorschriften. Also wird umgezogen. Auf ein mehr als 114.000 Quadratmeter großes, den Škoda-Werken abgewonnenes Areal. Ehemalige Werkhallen werden demoliert, neue aufgebaut. Mit modernster Technologie. Der eigentliche Umzug vom alten zum neuen Busdepot erfolgt in wenigen Stunden, es darf im Stadtverkehr zu keiner Unterbrechung kommen. Alles in kurzer, unglaublich kurzer Zeit, wie so Vieles hier in Pilsen überraschend schnell konzipiert und organisiert wird.

Ein moderner Oberleitungsbus verlässt die Werkhalle des neuen Pilsner Busdepots.

Ein Oldtimer wartet in der Garage auf einen neuen Auftritt.

Auch das DEPO2015 wird in kürzester Zeit aus dem Boden gestampft. Nein, nicht eigentlich aus dem Boden gestampft, der Ausdruck stimmt nicht: Die Hallen und die Außenareale sind ja noch da. Aber sie müssen den neuen Erfordernissen einer Kulturfabrik angepasst werden. Auch das in kürzester Zeit. Denn das Kulturhauptstadtjahr steht vor der Tür, als im September 2014 die Umgestaltungsarbeiten beginnen. Und im Frühjahr 2015 kann das DEPO pünktlich seine Tore öffnen.

Zweckentfremdet: vom Busdepot zum Kultur-DEPO
Man sieht den DEPO-Strukturen ihre frühere Nutzung als Busdepot noch an.

„reSTART“ ist der vielsagende Titel der Ausstellung von Čestmír Suška, der seine riesigen Metallkonstruktionen bis Ende 2015 vor und im neuen DEPO2015 zeigt.

Das neue Busdepot in der riesigen Ex-Škoda-Halle mit seinen zukunftsorientierten Anlagen und Einrichtungen – „Das Depot ist für die nächsten 30 Jahre konzipiert“, kommentiert Direktor Marek Herbst – ist heute der Stolz der städtischen Verkehrsbetriebe, wie das DEPO2015 der Stolz der Kulturhauptstadt ist: Kunstausstellungen, Tagungen, Dichterlesungen, Tanzveranstaltungen und Workshops ziehen besonders ein junges, jung gebliebenes und intellektuelles Publikum an.

Doch noch einmal zu den städtischen Verkehrsbetrieben zurück. Zu den rund 230 Bussen, die in der Stadt verkehren, kommen auch noch an die 120 Straßenbahnen, diese überwiegend gelben Trambahnen, die fast die Hälfte des Personenverkehrs übernehmen und aus dem Stadtbild nicht wegzudenken sind. Und damit sind wir bei einer anderen schönen Geschichte angelangt.

Attraktive Präsenz im Pilsner Straßenverkehr. Links hinten die Große Synagoge

František Křižík, ein tschechischer Techniker, Erfinder und Industrieunternehmer, war 1847 im Pilsen-nahen Plánice geboren. 1880 kam er in die westböhmische Hauptstadt, um die von ihm erfundene elektrische Bogenlampe (sie ist den Fachleuten, die sicher mehr darüber wissen als ich, auch als Křižík- oder Pilsen-Lampe bekannt) zu testen: Sie wurde zur Beleuchtung der Bühne im Großen Theater eingesetzt und in den Betriebshallen der heute aufgelassenen Piette-Papierfabrik (die sich unter dem Namen Papírna Plz als ebenfalls neue Kulturwerkstätte präsentiert).

Als die zunehmend industrialisierte Stadt gegen Ende des 19. Jahrhundert eine stürmische Bevölkerungsentwicklung erlebte, musste sie sich nach angemessenen Fahrzeugen für den Personentransport umsehen. Was lag da näher, als an die neuen Trambahnen zu denken, die in anderen Städten schon ihren Dienst taten? Als geeignetster Mann zur Lösung dieser Riesenaufgabe wurde František Křižík erneut in die Stadt gerufen. Und am 29. Juni 1899 konnten die ersten Straßenbahnlinien in Betrieb genommen werden: mit 20 Triebwagen, die auf drei Linien verkehrten. Ein denkwürdiger Tag für Pilsen.


František Křižík um das Jahr 1902, im Alter von 55 Jahren, als er schon die ersten Straßenbahnlinien in Pilsen angelegt hatte

Dem Pionier des elektrischen Schienenverkehrs ist in den Grünanlagen der Křižíkovy sady in Pilsen ein Denkmal gesetzt worden, das nur von Wenigen beachtet wird: Denn wer kennt heute schon den zum gefeierten Unternehmer und Erfinder aufgestiegenen Schneiderssohn aus dem 1600-Seelen-Städtchen Plánice, der von seinen Zeitgenossen als „tschechischer Edison“ gepriesen wurde?

Ich interessiere mich für ihn. Genauer gesagt: für Straßenbahnen und Trolleybusse. Noch genauer gesagt: für Oberleitungen. Freunde und Bekannte belächeln mich ob dieser meiner Passion. Ich habe lange nach einem Anlass gesucht, um einen Text darüber zu schreiben. Hier ist er. Eine Lobeshymne auf das avantgardistische Busdepot, den Trambahn-Realisator František Křižík und das dynamische DEPO2015. Sie geben mir die Möglichkeit, endlich auch einige meiner Fotos von Pilsner Oberleitungen zu zeigen. Ich finde sie unwiderstehlich.





Und mit diesem trüben Himmel verabschiede ich mich, voller trüber Laune, vorübergehend von Pilsen und von meinen Lesern. 

Jetzt machen Antonín Kolář und seine Oberschülerinnen vom Masaryk-Gymnasium weiter. Aber in einem Monat bin ich wieder da. In Pilsen und in meinem Blog. Na shledanou!

Samstag, 1. August 2015

Wanderung nach Plöß/Pleš


 Dillsuppe im Nicht-mehr-Dorf


So was Gutes hatte ich schon lange nicht mehr gegessen. Französische Austern? Italienischen Trüffelrisotto? Spanische Paella? Nein, ganz und gar nicht, keine internationale Spezialität. Es war eine einfache koprová polévka, eine böhmische Dillsuppe mit Pilzen und Kartoffeln. Und dazu ein Bier. Endlich einmal ein tschechisches Bier. Ich musste mich ja nicht gleich wieder ans Steuer setzen.
Schmackhaftes aus Böhmen: Dillsuppe und Bier

Wo ich diese köstliche Suppe gegessen habe? In der Hostinec na Pleši, dem „Wirtshaus bei Pleš“. Und wo ist das? Eigentlich nirgends. Denn das Dorf, bei dem das Gasthaus liegen müsste, gibt es nicht mehr. Es ist – wie man auf einer Tafel im Wald lesen kann – ein zaniklá obec, ein „untergegangenes Dorf“. Wie Jánska Huť/Johanneshütte, Stráská Huť/Strasshütten, Václav/Wenzelsdorf, Rabov/Rappauf und Mostek/Schwanenbrückl in der Nähe. Alle im Umkreis von wenigen Kilometern, wie man sie auf einer Tagestour leicht erwandern könnte. Aber alle sind heute verschwunden, im Jahr 1945 von ihren ehemaligen deutschsprachigen Bewohnern verlassen und dann nach 1950 vom kommunistischen Regime der Tschechoslowakei abgerissen und dem Erdboden gleich gemacht worden. Denn sie lagen in dem mit Zäunen und Wachttürmen gesicherten, militärisch kontrollierten Grenzstreifen, der auch eine Breite von mehreren Kilometern haben konnte und in dem niemand wohnen durfte. Ortschaften von der Landkarte gestrichen, heute mit Mühe und Not auf einer Turistická mapa auszumachen, einer Wanderkarte im Maßstab 1:50 000.


Ein Ortsschild anstelle eines 1000-Seelen-Dorfes

Warum ich mich für Untergegangenes, Nicht-mehr-Bestehendes interessiere? Ein Onkel von mir war in Plöß Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts Geistlicher. Allerdings nur für wenige Monate, von Oktober 1921 bis Juli 1922. Doch für mich Grund genug, mich im Nicht-mehr-Dorf umzuschauen.

So bin ich also von der deutschen Seite hergewandert (auf der tschechischen Seite wäre der Weg sehr viel länger gewesen), von der Wenige-Häuser-Siedlung Friedrichshäng bei Schönsee, in einer guten halben Stunde auf  bequemem, ebenem Waldweg, durch lichte Wälder und an weiten Koppeln vorbei, auf denen Kühe genüsslich weideten (es muss also doch noch Menschen hier geben). Bis hier zum Wirtshaus „Na Pleši“ bin ich gegangen. Und zur Dillsuppe, wie ich sie als Kind oft gegessen hatte. Wahrscheinlich schmeckte sie mir deshalb so gut. Kindheitserinnerungen, Nicht-vergessen-Können von bemaltem Keramikgeschirr, kräftigem Küchenduft, einfachen Speisen.

Ich kam hier in Pleš in eine „Wüstung“. Ich kannte dieses Wort nicht, musste erst in der Internet-Enzyklopädie nachschlagen: „Wüstung ist die Bezeichnung für eine Siedlung ..., die in der Vergangenheit aufgegeben wurde, an die aber noch Urkunden, Flurnamen, Reste im Boden, Ruinen oder örtliche mündliche Überlieferungen erinnern.“

Als mein Onkel Adolf Rudy, damals 26 Jahre jung, hier provisorisch als „Administrator“ fungierte, war Plöß/Pleš ganz und gar keine Wüstung, keine Einöde, sondern eine beliebte Sommerfrische. Viele Prager kamen herauf in dieses betriebsame, überwiegend von Deutschen bewohnte Dorf, kehrten gern in einer der damals drei Gastwirtschaften ein. Die eleganteste war das „Gasthaus Flor“. Zur Erinnerung an diese wie das ganze Dorf verschwundene Gaststätte wurde ein eisernes Kreuz aufgestellt, vor dem, wie vor Grabkreuzen, Kerzen brennen,

Am Kreuz zur Erinnerung an das Gasthaus Flor

ein anderes Kreuz wurde zur Erinnerung an die Dorfkirche aufgestellt, in der mein Onkel Geistlicher war,

Neben dem Baumstamm rechts das Kreuz zur Erinnerung an die Dorfkirche von Plöß

und ein Baum hält heute das Gedächtnis an den ehemaligen Dorfbewohner „Hebammer“ wach, der in Wirklichkeit Thomas Drachsler hieß und im Haus Nr. 28 wohnte, an der Hauptstraße des einst lang gestreckten Dorfs, das bei Kriegsbeginn noch mehr als tausend Einwohner hatte, wohl das bevölkerungsreichste der hier in Westböhmen verschwundenen Dörfer.

Ein Baum als Memorial für ein von „Hebammer“ bewohntes Haus

Und das Pfarrhaus? Wo mochte das gestanden haben? Sicher nahe bei
der Kirche. Vielleicht hier?


Oder hier?



Von welchen Häusern mögen die Steine stammen, die neben dem heutigen Gasthaus „Hostinec na Pleši“ zu einer Art Erinnerungsmauer angehäuft worden sind?


Und diese?





Die Grundmauern der Friedhofskirche sind neu aufgeschichtet worden, mit einem soliden Steintisch für Messfeiern, der Friedhof daneben mit seinen vielen deutschen Grabaufschriften ist geordnet und gepflegt.

Die Grundmauern der Friedhofskirche Hl. Johannes der Täufer in Plöß/Pleš

Überall wachsen wunderschöne Blumen und Gräser, als wollten sie die Wüstung übermänteln und ihr ihre Tristesse nehmen (und wenn ich seinerzeit im Botanikunterricht besser aufgepasst hätte, wüsste ich jetzt auch ihre Namen):







Aber die Nostalgie bleibt. Trotz Bier und Dillsuppe.