Das Pilsener Gefängnis als Spiegel der tschechischen Geschichte
Bory: Allein beim Hören dieses Namens überläuft es jeden Tschechen kalt.
Lukáš Paleček hat dort vier Jahre lang als Beamter gearbeitet, vor zwei Jahren
aber seinen Dienst quittiert, um sich historisch-genealogischen Forschungen zu
widmen. Ob auch die Geschichte aus Grausamkeiten und Greueltaten, die auf
diesem heute größten Gefängnis auf tschechischem Boden lastet, ihn veranlasst
hat, sich nach anderen Arbeitsbereichen umzusehen?
Ich habe es ihn nicht gefragt, als wir – meine treue Tereza Svášková und
ich – uns mit ihm im Café Frenchie gleich unter dem Großen Theater in Pilsen
getroffen haben und er uns zwei Stunden lang geduldig Rede und Antwort stand. Eigentlich
hätten die Informationen, die er uns vermittelt hatte, schon ausgereicht, um
einen längeren Artikel über das Pilsener Gefängnis zu schreiben. Aber ich
wollte die Strafanstalt mit eigenen Augen sehen, wollte die Luft atmen, die
hier im Laufe der 140-jährigen Geschichte Tausende und Abertausende von
Häftlingen geatmet haben.
Der Eingang zum Pilsener Gefängnis |
Bory war von Anfang an, als es noch unter österreichisch-ungarischer
Herrschaft zwischen 1874 und 1878 erbaut wurde, als moderne Strafanstalt
konzipiert. Der aus Prag stammende Architekt Emanuel Trojan Ritter von Bylanow
entschied sich für „jene mustergültige Form, wobei die Zellentrakte
strahlenförmig um die Beobachtungs- oder Zentralhalle sich gruppieren und mit
derselben durch lichte Gänge in Verbindung stehen“. Als „Panoptikum-Design“
wurde diese seit dem frühen 19. Jahrhundert für Gefängnisse angewandte Bauweise
bezeichnet – ein scheinbar höhnischer Begriff für Bauwerke, die alles andere
als Kuriositätenkabinette waren und sind. Doch die architektonische Logik, die
hinter diesem Terminus steht, wird verständlich, wenn man sich die Etymologie
des aus dem Griechischen kommenden Wortes vor Augen hält: „pān“ = „gesamt“ und
„optikós“ = „optisch“. „Panoptikum“ also als „Gesamtschau“.
In der Tat hatten mein Dolmetscher Honza Chabr und ich, als wir den
zentralen Punkt unter der rund 35 Meter hohen Kuppel betreten hatten (zögernd und mit leicht
zitternden Knien, offen gesagt), einen kompletten Einblick in die sieben
unendlich langen, sternförmig angelegten Korridore des Gefängnisses: Im einen
hallten die Stimmen der Häftlinge wider, die sich vor den Zellentüren zu
unterhalten schienen, aus einem anderen schoben mehrere Strafgefangene einen Wagen
mit Kochtöpfen heraus, in einem dritten war es totenstill. Und ich war froh,
als wir – nach dem Gang durch viele Metalltüren, die mit rasselnden Schlüsseln
geöffnet und hinter uns scheppernd wieder verschlossen wurden – im Raum mit der
Dauerausstellung zur Gefängnisgeschichte angelangt waren, an deren
Verwirklichung Lukáš Paleček maßgeblich beteiligt gewesen ist.
Hier wurden uns bildhaft Fakten vor Augen geführt, aus denen eins
hervorging: dass das věznice Plzeň seit
seiner Gründung die von den jeweiligen Regimen „bevorzugte“ Anstalt zur
Inhaftierung von politisch Andersdenkenden und Dissidenten war.
Angefangen hatte diese Geschichte von Pilsen-Bory als Synonym für „Knast
der Regimegegner“ bald nach Etablierung der Strafanstalt. Auch die k.u.k.
Monarchie ging mit Untertanen, die wegen ihrer (oft durchaus berechtigten)
Ideen und Bestrebungen als staatsgefährdend galten, nicht sanft um. Und unter
den Ersten, die ihren Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit mit einer Haft in
Pilsen-Bory bezahlen mussten, waren die Anhänger des tschechischen Geheimbundes
„Omladina“: Fast 70 seiner Angehörigen wurden 1894 zu langen Gefängnisstrafen
verurteilt, darunter auch der spätere Finanzminister der Ersten
Tschechoslowakischen Republik, Alois Rašin (dass er 1923 Opfer eines Attentats
wurde, ist eine andere Geschichte).
Alois Rašin (1867–1923), Mitbegründer der Ersten Tschechoslowakischen Republik und Finanzminister |
Weitere illustre Bory-Häftlinge waren der 1939 von den Deutschen inhaftierte
Antonín Zápotocký, zu kommunistischer Zeit Staatspräsident der Tschechoslowakei
(1953 bis zu seinem Tod 1957), und mehrere Monate Haft in Bory verbrachten
unter kommunistischem Regime auch der spätere Staatspräsidenten Václav Havel
(1936–2011), der spätere Außenminister Jiří Dienstbier (1937–2011) und der heutige
Erzbischof von Prag, Dominik Kardinal Duka.
Václav Havel |
Jiří Dienstbier |
Der Prager Erzbischof Kardinal Dominik Duka |
Gleich nach der Besetzung Böhmens durch die deutsche Wehrmacht und der
Gründung des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren zog in Bory die Gestapo ein,
viele Pilsener Juden nahmen während des Zweiten Weltkriegs ihren Todesweg in die
Konzentrationslager von Bory aus, Mitglieder des tschechischen Widerstands zur
Zeit der nazideutschen Besatzung lebten hier unter unmenschlichen Bedingungen, viele
Sudetendeutsche wurden nach Kriegsende im Pilsener Gefängnis von Tschechen misshandelt,
gefoltert und getötet. Lukáš Paleček zählt Namen über Namen auf, erzählt Geschichten von Willkürakten und Unmenschlichkeit, die man nur mit Entsetzen anhören kann.
Eine Symbolfigur der tschechischen Nachkriegsgeschichte
und prominentes Opfer des kommunistischen Regimes war General Heliodor Píka
(1897–1949), der – des Landesverrats beschuldigt – am 21. Juni 1949 hier in
Bory hingerichtet wurde: „Nein“, berichtigt Lukáš Paleček, „nicht hingerichtet,
er wurde ermordet.“ Denn Píka wurde später als schuldlos rehabilitiert. Zum
Glück können die Wände der Haftanstalt nicht erzählen, was sie gehört und
gesehen haben. Jedes Regime hat hier seine Opfer hinterlassen, und Bory ist der
Spiegel der tschechischen Geschichte der vergangenen 140 Jahre.
Heliodor Píka als französischer Legionär im Ersten Weltkrieg |
Ein Bory-Gefangener, mit dem sich Lukáš Paleček besonders intensiv beschäftigt
hat, war der deutsche General Rudolf Toussaint (1891–1968), bei Kriegsende
Befehlshaber im Wehrkreis Böhmen und Mähren. Er ergab sich den Amerikanern,
wurde 1946 an die tschechoslowakischen Behörden ausgeliefert und verbrachte 15
Jahre in Bory. Als Häftling und Hobbymaler. Toussaint wurde 1961 der
Bundesrepublik Deutschland übergeben: „Als ich jetzt im Grenzhaus Waidhaus
ausgeliefert wurde, was glauben Sie, was die Tschechen dort hängen hatten? Zwei
Bilder von mir“, erzählte er einem Journalisten. Nicht weniger als 420
Ölgemälde soll er in seiner Pilsener Haftzeit geschaffen haben, ein Dutzend
davon ist in Bory geblieben, und Lukáš Paleček bemüht sich um ihre
künstlerische Wertung und symbolische Deutung: Blumen, südliche Landschaften
und heitere Genreszenen, die den bitteren Beigeschmack des Bory-Besuchs etwas
abmildern.
Direktor Petr Vlk, 42 Jahre alt und erst seit wenigen Monaten im Amt – er
wirkt sportlich und selbstsicher, ist sich seiner nicht leichten Aufgabe an der
Spitze einer Strafanstalt mit heute 1210 Insassen durchaus bewusst –, verabschiedet sich von uns. Und wir atmen
tief durch, als wir wieder im Freien stehen.
Ein unübersehbarer Monumentalbau im Süden der Stadt Pilsen: die Strafanstalt Bory |
4 Kommentare:
Sehr geehrter Herr Lukáš Paleček,
mein Vater Dr.vet. Johann Porak war - so das Zeugnis seiner Briefe an seine Schwester, die ich in Hände halte - von 1946 bis zu seinem Tod in diesem Gefängnis.
Mit Ihrer Arbeit geben sie all den Geknechteten ein Stück ihrer verlorenen Würde zurück. Herzlichen Dank
Prof. Alwin Porak
Sehr verehrte Frau de Concini,
können Sie oder Herr Paleček mir nähre Informationen bezüglich eines Besuchs des Raumes mit der Dauerausstellung zur Gefängnisgeschichte Bory geben. Ist diese Ausstellung für jeden möglich und wen ja wann ist diese geöffnet. Ich bedanke mich im Voraus für Ihre Hilfe und Mühen.
Mit freundlichem Gruß und Herzlichem Dank
Wolfgang Ritter
...ich war dort vor genau 29 Jahren inhaftiert worden und finde die vergangenen Erlebnisse immer noch sehr beeindruckend. Viele Grüße, Peter
Ich war dort vom Mai 1978-Juni 1978...
Ein Symbol des Sozialismus...Wie alle Kommunistischen Zuchthäuser.
Man sollte es in Brand setzen!
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