Freitag, 16. Oktober 2015

Besuch in Bory


Das Pilsener Gefängnis als Spiegel der tschechischen Geschichte

Bory: Allein beim Hören dieses Namens überläuft es jeden Tschechen kalt. Lukáš Paleček hat dort vier Jahre lang als Beamter gearbeitet, vor zwei Jahren aber seinen Dienst quittiert, um sich historisch-genealogischen Forschungen zu widmen. Ob auch die Geschichte aus Grausamkeiten und Greueltaten, die auf diesem heute größten Gefängnis auf tschechischem Boden lastet, ihn veranlasst hat, sich nach anderen Arbeitsbereichen umzusehen?

 
Lukáš Paleček, ehemaliger Beamter im Gefängnis Pilsen-Bory

Ich habe es ihn nicht gefragt, als wir – meine treue Tereza Svášková und ich – uns mit ihm im Café Frenchie gleich unter dem Großen Theater in Pilsen getroffen haben und er uns zwei Stunden lang geduldig Rede und Antwort stand. Eigentlich hätten die Informationen, die er uns vermittelt hatte, schon ausgereicht, um einen längeren Artikel über das Pilsener Gefängnis zu schreiben. Aber ich wollte die Strafanstalt mit eigenen Augen sehen, wollte die Luft atmen, die hier im Laufe der 140-jährigen Geschichte Tausende und Abertausende von Häftlingen geatmet haben. 

Der Eingang zum Pilsener Gefängnis

Bory war von Anfang an, als es noch unter österreichisch-ungarischer Herrschaft zwischen 1874 und 1878 erbaut wurde, als moderne Strafanstalt konzipiert. Der aus Prag stammende Architekt Emanuel Trojan Ritter von Bylanow entschied sich für „jene mustergültige Form, wobei die Zellentrakte strahlenförmig um die Beobachtungs- oder Zentralhalle sich gruppieren und mit derselben durch lichte Gänge in Verbindung stehen“. Als „Panoptikum-Design“ wurde diese seit dem frühen 19. Jahrhundert für Gefängnisse angewandte Bauweise bezeichnet – ein scheinbar höhnischer Begriff für Bauwerke, die alles andere als Kuriositätenkabinette waren und sind. Doch die architektonische Logik, die hinter diesem Terminus steht, wird verständlich, wenn man sich die Etymologie des aus dem Griechischen kommenden Wortes vor Augen hält: „pān“ = „gesamt“ und „optikós“ = „optisch“. „Panoptikum“ also als „Gesamtschau“.

In der Tat hatten mein Dolmetscher Honza Chabr und ich, als wir den zentralen Punkt unter der rund 35 Meter hohen Kuppel betreten hatten (zögernd und mit leicht zitternden Knien, offen gesagt), einen kompletten Einblick in die sieben unendlich langen, sternförmig angelegten Korridore des Gefängnisses: Im einen hallten die Stimmen der Häftlinge wider, die sich vor den Zellentüren zu unterhalten schienen, aus einem anderen schoben mehrere Strafgefangene einen Wagen mit Kochtöpfen heraus, in einem dritten war es totenstill. Und ich war froh, als wir – nach dem Gang durch viele Metalltüren, die mit rasselnden Schlüsseln geöffnet und hinter uns scheppernd wieder verschlossen wurden – im Raum mit der Dauerausstellung zur Gefängnisgeschichte angelangt waren, an deren Verwirklichung Lukáš Paleček maßgeblich beteiligt gewesen ist.

Hier wurden uns bildhaft Fakten vor Augen geführt, aus denen eins hervorging: dass das věznice Plzeň seit seiner Gründung die von den jeweiligen Regimen „bevorzugte“ Anstalt zur Inhaftierung von politisch Andersdenkenden und Dissidenten war.

Angefangen hatte diese Geschichte von Pilsen-Bory als Synonym für „Knast der Regimegegner“ bald nach Etablierung der Strafanstalt. Auch die k.u.k. Monarchie ging mit Untertanen, die wegen ihrer (oft durchaus berechtigten) Ideen und Bestrebungen als staatsgefährdend galten, nicht sanft um. Und unter den Ersten, die ihren Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit mit einer Haft in Pilsen-Bory bezahlen mussten, waren die Anhänger des tschechischen Geheimbundes „Omladina“: Fast 70 seiner Angehörigen wurden 1894 zu langen Gefängnisstrafen verurteilt, darunter auch der spätere Finanzminister der Ersten Tschechoslowakischen Republik, Alois Rašin (dass er 1923 Opfer eines Attentats wurde, ist eine andere Geschichte). 

Alois Rašin (1867–1923), Mitbegründer der Ersten Tschechoslowakischen Republik und Finanzminister

Weitere illustre Bory-Häftlinge waren der 1939 von den Deutschen inhaftierte Antonín Zápotocký, zu kommunistischer Zeit Staatspräsident der Tschechoslowakei (1953 bis zu seinem Tod 1957), und mehrere Monate Haft in Bory verbrachten unter kommunistischem Regime auch der spätere Staatspräsidenten Václav Havel (1936–2011), der spätere Außenminister Jiří Dienstbier (1937–2011) und der heutige Erzbischof von Prag, Dominik Kardinal Duka.

Václav Havel


Jiří Dienstbier


Der Prager Erzbischof Kardinal Dominik Duka

Gleich nach der Besetzung Böhmens durch die deutsche Wehrmacht und der Gründung des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren zog in Bory die Gestapo ein, viele Pilsener Juden nahmen während des Zweiten Weltkriegs ihren Todesweg in die Konzentrationslager von Bory aus, Mitglieder des tschechischen Widerstands zur Zeit der nazideutschen Besatzung lebten hier unter unmenschlichen Bedingungen, viele Sudetendeutsche wurden nach Kriegsende im Pilsener Gefängnis von Tschechen misshandelt, gefoltert und getötet. Lukáš Paleček zählt Namen über Namen auf, erzählt Geschichten von Willkürakten und Unmenschlichkeit, die man nur mit Entsetzen anhören kann.

Eine Symbolfigur der tschechischen Nachkriegsgeschichte und prominentes Opfer des kommunistischen Regimes war General Heliodor Píka (1897–1949), der – des Landesverrats beschuldigt – am 21. Juni 1949 hier in Bory hingerichtet wurde: „Nein“, berichtigt Lukáš Paleček, „nicht hingerichtet, er wurde ermordet.“ Denn Píka wurde später als schuldlos rehabilitiert. Zum Glück können die Wände der Haftanstalt nicht erzählen, was sie gehört und gesehen haben. Jedes Regime hat hier seine Opfer hinterlassen, und Bory ist der Spiegel der tschechischen Geschichte der vergangenen 140 Jahre.

Heliodor Píka als französischer Legionär im Ersten Weltkrieg

Ein Bory-Gefangener, mit dem sich Lukáš Paleček besonders intensiv beschäftigt hat, war der deutsche General Rudolf Toussaint (1891–1968), bei Kriegsende Befehlshaber im Wehrkreis Böhmen und Mähren. Er ergab sich den Amerikanern, wurde 1946 an die tschechoslowakischen Behörden ausgeliefert und verbrachte 15 Jahre in Bory. Als Häftling und Hobbymaler. Toussaint wurde 1961 der Bundesrepublik Deutschland übergeben: „Als ich jetzt im Grenzhaus Waidhaus ausgeliefert wurde, was glauben Sie, was die Tschechen dort hängen hatten? Zwei Bilder von mir“, erzählte er einem Journalisten. Nicht weniger als 420 Ölgemälde soll er in seiner Pilsener Haftzeit geschaffen haben, ein Dutzend davon ist in Bory geblieben, und Lukáš Paleček bemüht sich um ihre künstlerische Wertung und symbolische Deutung: Blumen, südliche Landschaften und heitere Genreszenen, die den bitteren Beigeschmack des Bory-Besuchs etwas abmildern.

Direktor Petr Vlk, 42 Jahre alt und erst seit wenigen Monaten im Amt – er wirkt sportlich und selbstsicher, ist sich seiner nicht leichten Aufgabe an der Spitze einer Strafanstalt mit heute 1210 Insassen durchaus bewusst  –, verabschiedet sich von uns. Und wir atmen tief durch, als wir wieder im Freien stehen. 

Ein unübersehbarer Monumentalbau im Süden der Stadt Pilsen: die Strafanstalt Bory



4 Kommentare:

Prof. Alwin Porak hat gesagt…

Sehr geehrter Herr Lukáš Paleček,
mein Vater Dr.vet. Johann Porak war - so das Zeugnis seiner Briefe an seine Schwester, die ich in Hände halte - von 1946 bis zu seinem Tod in diesem Gefängnis.
Mit Ihrer Arbeit geben sie all den Geknechteten ein Stück ihrer verlorenen Würde zurück. Herzlichen Dank
Prof. Alwin Porak

Unknown hat gesagt…

Sehr verehrte Frau de Concini,
können Sie oder Herr Paleček mir nähre Informationen bezüglich eines Besuchs des Raumes mit der Dauerausstellung zur Gefängnisgeschichte Bory geben. Ist diese Ausstellung für jeden möglich und wen ja wann ist diese geöffnet. Ich bedanke mich im Voraus für Ihre Hilfe und Mühen.
Mit freundlichem Gruß und Herzlichem Dank
Wolfgang Ritter

Unknown hat gesagt…

...ich war dort vor genau 29 Jahren inhaftiert worden und finde die vergangenen Erlebnisse immer noch sehr beeindruckend. Viele Grüße, Peter

Unknown hat gesagt…

Ich war dort vom Mai 1978-Juni 1978...
Ein Symbol des Sozialismus...Wie alle Kommunistischen Zuchthäuser.
Man sollte es in Brand setzen!

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