Sonntagsausflug nach Kašperské Hory
Ich hatte noch die lange Rückfahrt von Den Haag nach Pilsen in den Knochen
und die wunderschönen Märchenhäuser im Diplomatenviertel der „Welthauptstadt
der Gerichtsbarkeit“ vor Augen, als meine tschechische Freundin Lenka mich zu
einem Ausflug einlud: zu einer kleinen Sonntagstour in den Böhmerwald hinunter.
Da ich, eine ewig unruhige „Herumziehende“, solchen Einladungen nicht
widerstehen kann, fuhren wir nach Kašperské Hory/Bergreichenstein. Und ich
hatte nicht gedacht, dass es eine Fahrt in eine andere Welthauptstadt werden
würde.
Giebel des Rathauses in Kašperské Hory |
Die gotische Kirche der hl. Margarethe in Kašperské Hory: Auch hier hat ein Onkel von mir in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Kaplan gewirkt. |
Wien? Prag? Nürnberg? Was sind sie schon im Vergleich zu Kašperské Hory?
Hier, in dem 758 Meter hoch gelegenen 1500-Einwohner-Städtchen, kreuzen sich
die Fäden der Geschichte. Vom Mittelalter an führte durch die Gebirgsstadt und
ihre Umgebung der bedeutendste Handelsweg des europäischen Festlandes, von
Südfrankreich in den arabischen Osten. Durch Böhmerwaldtäler, die heute als
stille Erholungsgebiete propagiert werden, zogen unablässig endlose Karawanen aus
Lasttieren, die mit den kostbarsten Schätzen der damaligen Zeit beladen waren:
mit feinen Seidenstoffen, orientalischen Gewürzen und damals sündteurem Salz,
die den Einheimischen das Flair der weiten Welt vorführten, aber auch mit Wolle
und Leder, Hopfen und Honig aus den böhmischen Ländern. Und dazu der „Goldene
Steig“, der seinen Namen zu Recht trug. Denn die Berge rund um Kašperské Hory
waren voller Gold, sind es auch heute noch. Doch das Angebot internationaler
Konzerne, die dieses Metall heute schürfen möchten, wurde von den Einheimischen
strikt abgelehnt: Eine gesunde Umwelt ist ihnen lieber.
Vladimír Horpeniak, der historische Leiter des Böhmerwaldmuseums, erzählt
mit wachsendem Enthusiasmus von seinem Heimatstädtchen, das vom Mittelalter an
von Königen und Kaisern umworben war: eben eine damalige Weltstadt an einer
internationalen Handelsroute. Und er führt uns durch die Ausstellung „Die
gotische Kunst in der Gegend der Flüsse Otava und Úhlava“ mit reich vergoldeten
Flügelaltären und einzigartig schönen Madonnenstatuen, die alle hier im
südwestböhmischen Raum entstanden sind.
Hier und nachfolgend mehrere gotische Madonnenstatuen in der Ausstellung über gotische Kunst im Böhmerwaldmuseum in Kašperské Hory |
Gotische Fresken in der Nikolauskirche in Kašperské Hory |
Bemalte Decke und Empore in der Nikolauskirche |
Viele der zauberhaften Gläser aus dem Besitz des Museums stammen aus der Glashütte Lötz im benachbarten Dörfchen Klášterský Mlýn/Klostermühle. Auch hier wieder der Wind der großen, weiten Welt. Für die weltberühmte Kunstglasmanufaktur, die 1945 mit der Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung geschlossen wurde, entwarfen Wiener Architekten und Designer wie Josef Hoffmann, Koloman Moser, Otto Prutscher, Michael Powolny und andere Künstler der Wiener Werkstätte Glaskunstwerke, um die Museen und Sammler sich heute reißen.
Unglaublich, was an großer Kultur auch in diesen nur scheinbar abseitigen
Gebirgsgegenden zu finden ist. Vielleicht hat Vladimír Horpeniak doch Recht,
Kašperské Hory für den Nabel der Welt zu halten?
Die Bergsynagoge in Hartmanice |
Nur ein paar Kilometer weiter, und Lenka und ich legen einen neuen Halt
ein. Die vorbildlich restaurierte Synagoge in Hartmanice/Hartmanitz präsentiert sich mit
einer Ausstellung, in der viel von Juden, jüdischer Geschichte und
Judenverfolgung erzählt wird. Vor allem aber vom tschechisch-deutsch-jüdischen
Zusammenleben, das hier bis zum Zweiten Weltkrieg nicht nur möglich war,
sondern zur jahrhundertelangen gegenseitigen Beeinflussung von Kulturen
geführt hat. Hinterwäldlertum in versteckten Böhmerwaldtälern? Nein, das ist
Verständnis über alle Grenzen hinweg. Vor allem über die in unseren Köpfen.
Božena Stejkalová, die Aufseherin im Museum der Bergsynagoge in Hartmanice/Hartmanitz, wünscht uns gute Reise, und Lenka und ich fahren einem prachtvollen böhmischen Sonnenuntergang entgegen.
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