Montag, 27. April 2015

Bayern in Pilsen


Grenzüberschreitende Verbrüderung

Heute traute ich meinen Augen nicht. In wenigen Stunden hatte sich der Hauptplatz Náměstí Republiky, sonst Flaniermeile, Spielwiese (ohne Gras) und Sonnplatz der Einheimischen, in einen Biergarten (ohne Gras und Bäume) verwandelt. Mit hölzernen Biertischen und hölzernen Sitzbänken, wie sie einem bayerischen Biergarten gut anstehen. Und überall wurde Bayerisch gesprochen, in den verschiedensten ostbayerischen Varianten.

Die Belagerung des Pilsner Hauptplatzes durch Bayern jeden Alters und der Einzug des riesigen, fauchenden und feuerspeienden Drachenrobots Fanny aus Furth im Wald (eine Szene wie aus Jurassicpark) war der vergnügliche Abschluss der Bayerischen Kulturtage, die eine Woche lang Kultur in allen Formen in die westböhmische Stadt gebracht hatten. 
 
Der Drache Fanny aus Furth im Wald ist der größte vierbeinige Laufroboter der Welt. Hier das Untier vor den pastellfarbenen Hausfassaden am Pilsner Hauptplatz

Es hatte Begegnungen von tschechischen und bayerischen Berufsschulen gegeben, einen bayerisch-böhmischen Jugendkunstschultag, einen Auftritt der Regensburger Domspatzen in der Großen Synagoge mit ihrer beneidenswerten Akustik, Konzerte, Filmabende und Tanzperformances von bayerischen wie böhmischen Künstlern und Gruppen. Aus der überfüllten Kathedrale tönten Predigten auf Deutsch und auf Tschechisch, in denen viel von Brücken, Nachbarschaft und Europa die Rede war. Und der überraschten, neugierigen Teilnahme der Pilsner Einheimischen war anzumerken, dass dies keine leeren Worte waren. Hier in Pilsen wurden eine Woche lang Brücken geschlagen und Nachbarschaften gefestigt.

Der literarische Höhepunkt dieser bayerischen Woche war die Präsentation des zweisprachigen Buches unterwegs/cestou*: Je zehn ostbayerische und westböhmische Autoren setzen sich in kurzen Prosatexten mit dem Unterwegssein auseinander, mit dem „Wandern durch innere und äußere Landschaften“ – wie es im Vorwort heißt. Einige der Erzählungen spielen in Fantasielandschaften, andere haben „grenzüberschreitende“ Gegenden zwischen Bayern und Böhmen zum Schauplatz. 

 
Fünf AutorInnen des Prosa-Sammelbandes unterwegs/cestou. Von links nach rechts: Jarka Málková, Carola Kupfer, Tamara Kopřivová, Marita A. Panzer und Rolf Stemmle. Dazwischen, aufmerksam und in Pose, der Hund Zampa, mein treuer Reisegefährte

Die aus einer grenznahen westböhmischen Ortschaft stammende Schriftstellerin und Historikerin Marie Špačková schreibt in einem kurzen, 1990 angesiedelten Text von einem Zug, der von Böhmen nach Bayern fährt, von der unterschiedlichen Landschaft auf der einen und der anderen Seite der Grenze: „Näher zu den Bauernhöfen trauten sich die Menschen aus dem von der böhmischen Seite kommenden Zug nicht. Auf den Höfen der Anwesen zeigte sich auch niemand. Die einen wie die anderen wussten nicht, was sie voneinander denken sollten. Und auch wenn sie es gewusst hätten, sie wären nicht fähig gewesen es zu sagen. Die einen blieben für die anderen stumm.“ Glücklicherweise hat sich seit 1990, nach der Samtenen Revolution von 1989, einiges geändert. Heute spricht man, singt man, spielt man, tanzt man und trinkt man miteinander (gutes, schäumendes Bier, wie beide Seiten es lieben): Die Bayerischen Kulturtage sind ein beredtes Zeichen dieses Wieder-Miteinander-Könnens von Bayern und Böhmen, von Deutschen und Tschechen.

* Verband deutscher Schriftsteller, Regionalgruppe Ostbayern (Hg.), unterwegs. Geschichten aus Westböhmen und Ostbayern/cestou. Příběhy z východního Bavorska a západních Čech, Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2015

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