Grenzüberschreitende
Verbrüderung
Heute traute ich meinen Augen nicht. In wenigen Stunden hatte sich der
Hauptplatz Náměstí Republiky, sonst Flaniermeile, Spielwiese (ohne Gras) und
Sonnplatz der Einheimischen, in einen Biergarten (ohne Gras und Bäume) verwandelt.
Mit hölzernen Biertischen und hölzernen Sitzbänken, wie sie einem bayerischen
Biergarten gut anstehen. Und überall wurde Bayerisch gesprochen, in den
verschiedensten ostbayerischen Varianten.
Die Belagerung des Pilsner Hauptplatzes durch Bayern jeden Alters und der
Einzug des riesigen, fauchenden und feuerspeienden Drachenrobots Fanny aus
Furth im Wald (eine Szene wie aus Jurassicpark) war der vergnügliche Abschluss der Bayerischen Kulturtage, die
eine Woche lang Kultur in allen Formen in die westböhmische Stadt gebracht
hatten.
Der Drache Fanny aus Furth im Wald ist der größte vierbeinige Laufroboter der Welt. Hier das Untier vor den pastellfarbenen Hausfassaden am Pilsner Hauptplatz |
Es hatte Begegnungen von tschechischen und bayerischen Berufsschulen
gegeben, einen bayerisch-böhmischen Jugendkunstschultag, einen Auftritt der
Regensburger Domspatzen in der Großen Synagoge mit ihrer beneidenswerten
Akustik, Konzerte, Filmabende und Tanzperformances von bayerischen wie
böhmischen Künstlern und Gruppen. Aus der überfüllten Kathedrale tönten
Predigten auf Deutsch und auf Tschechisch, in denen viel von Brücken,
Nachbarschaft und Europa die Rede war. Und der überraschten, neugierigen Teilnahme
der Pilsner Einheimischen war anzumerken, dass dies keine leeren Worte waren.
Hier in Pilsen wurden eine Woche lang Brücken geschlagen und Nachbarschaften
gefestigt.
Der literarische Höhepunkt dieser bayerischen Woche war die Präsentation
des zweisprachigen Buches unterwegs/cestou*: Je zehn ostbayerische und
westböhmische Autoren setzen sich in kurzen Prosatexten mit dem Unterwegssein
auseinander, mit dem „Wandern durch innere und äußere Landschaften“ – wie es im
Vorwort heißt. Einige der Erzählungen spielen in Fantasielandschaften, andere
haben „grenzüberschreitende“ Gegenden zwischen Bayern und Böhmen zum
Schauplatz.
Die aus einer grenznahen westböhmischen Ortschaft stammende
Schriftstellerin und Historikerin Marie Špačková schreibt in einem kurzen, 1990
angesiedelten Text von einem Zug, der von Böhmen nach Bayern fährt, von der
unterschiedlichen Landschaft auf der einen und der anderen Seite der Grenze:
„Näher zu den Bauernhöfen trauten sich die Menschen aus dem von der böhmischen
Seite kommenden Zug nicht. Auf den Höfen der Anwesen zeigte sich auch niemand.
Die einen wie die anderen wussten nicht, was sie voneinander denken sollten.
Und auch wenn sie es gewusst hätten, sie wären nicht fähig gewesen es zu sagen.
Die einen blieben für die anderen stumm.“ Glücklicherweise hat sich seit 1990, nach
der Samtenen Revolution von 1989, einiges geändert. Heute spricht man, singt
man, spielt man, tanzt man und trinkt man miteinander (gutes, schäumendes Bier, wie beide Seiten es lieben): Die Bayerischen
Kulturtage sind ein beredtes Zeichen dieses Wieder-Miteinander-Könnens von
Bayern und Böhmen, von Deutschen und Tschechen.
* Verband deutscher Schriftsteller, Regionalgruppe
Ostbayern (Hg.), unterwegs. Geschichten
aus Westböhmen und Ostbayern/cestou. Příběhy z východního Bavorska a západních Čech, Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2015
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