„Kde domov můj“ – „Wo
ist meine Heimat?“
Heute will ich einmal eine längere Geschichte erzählen, die über Pilsen und
seine unglaublich vielfältigen Veranstaltungen als Europäische Kulturhauptstadt
2015 hinausgeht. Doch sie beginnt in der westböhmischen Metropole.
Die Pilsner kennen ihn, zumindest dem Namen nach, (fast) alle. Nach Josef
Kajetán Tyl ist das „alte“ Große Theater benannt, ein mächtiger
Neorenaissancebau am Rand der Altstadt.
Das Josef-Kajetán-Tyl-Denkmal vor dem Großen Theater in Pilsen, das den Namen des tschechischen Schauspielers und Dramatikers trägt |
Wahrscheinlich wäre er weniger
monumental und pompös ausgefallen, wenn der österreichische, im böhmischen Pirnitz/Brtnice
geborene Architekt Josef Hoffmann den gegen Ende des 19. Jahrhunderts
ausgeschriebenen Wettbewerb zum Neubau eines Stadttheaters gewonnen hätte. Aber
dem deutschsprachigen, einem puristisch-schmucklosen Stil zugeneigten Hoffmann
wurde der tschechischsprachige Antonín Balšánek vorgezogen, der eher auf imposante
Repräsentationsbauten setzte. Nur eine Frage des Stils? Oder hatten bei der
Wahl für Balšánek nicht vielleicht auch nationale Elemente mitgespielt? Die
kleinen Nationen im riesigen Schmelztiegel der Donaumonarchie begannen sich in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die eigene Kultur und Tradition zu
besinnen. So auch die Tschechischböhmen.
Jedenfalls wurde das Große Stadttheater in Pilsen 1902, nach nur
dreijähriger Bauzeit, eröffnet: mit Bedřich Smetanas Oper „Libuše“. Wie schon
21 Jahre zuvor das Prager Nationaltheater. Und auch das war wohl keine
zufällige Entscheidung: Die Prinzessin Libuše gilt als legendäre Stammmutter
der Přemysliden, die im Mittelalter 400 Jahre lang über Böhmen herrschten,
bevor sie die Macht an die Luxemburger abtreten mussten.
Das Pilsner Große Stadttheater wurde dann, wie gesagt, nach Josef Kajetán
Tyl benannt. Er war im Jahr 1865 in Pilsen gestorben, bei einem Gastspiel
seiner Wandertheatergruppe, mit der er durch Böhmen zog. Erst 48 Jahre alt, arm
und krank und Vater von sechs Kindern, zwei Töchtern und vier Söhnen (das
siebte Kind kam einen Monat nach Tyls Tod auf die Welt). Eine ganz normale
Geschichte also? Nein, ganz normal und alltäglich doch nicht. Die Story hat
einen Background, den vielleicht nicht viele kennen, der aber heute für
Schlagzeilen in Boulevardblättern sorgen würde: Nach wenigen Jahren kinderloser
Ehe mit der Schauspielerin Magdalena Forchheimová verliebte Josef Kajetán Tyl
sich in deren um 21 Jahre jüngere Schwester Anna und nahm sie mit zu sich. Der
Dreier-Haushalt scheint funktioniert zu haben; denn weder ließ Magdalena sich
scheiden noch hörten Josef Kajetán und Anna auf, Kinder in die Welt zu setzen:
sieben in zwölf Jahren.
Josef Kajetán Tyl auf einer Lithografie von Jan Vilímek |
Sicher hätten die Tschechen mehr Anstoß an dieser für damalige Zeiten wohl
skandalösen „Ehe zu dritt“ genommen, wenn Tyl inzwischen nicht eine Symbolfigur
böhmischen Nationalbewusstseins geworden wäre. Im Jahr 1834 war in Prag Tyls
„Fidlovačka“ (Das Schusterfest) aufgeführt
worden, zu dem der tschechische Kapellmeister František Škroup die Musik geschrieben hatte. Das Theaterstück war
nicht gerade ein Kassenschlager, doch eines der Lieder schmeichelte sich mit
seiner getragenen, erhabenen Melodie bald in die Herzen der Tschechen ein: „Kde domov můj“ – „Wo
ist meine Heimat?“. Das Heimatlied, in dem von brausendem Wasser und rauschenden
Wäldern die Rede ist und Böhmen als irdisches Paradies verherrlicht wird, wurde
gleich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zur Nationalhymne der eben gegründeten
Tschechoslowakischen Republik erklärt und ist bis heute die tschechische Hymne
(bewegend und unvergesslich ihr Vortrag beim feierlichen Staatsbegräbnis des
tschechischen Ex-Präsidenten Václav Havel im Dezember 2011 im Prager Veitsdom).
Nicht nur die Pilsner, sondern alle Tschechen haben also von Josef Kajetán
Tyl eine sehr viel seriösere Vorstellung als die eines unruhigen
Wanderschauspielers und flatterhaften Herzensbrechers – der im Übrigen ein
absolut gut aussehender Mann war, trotz der vielen Krankheiten, die seine
Gesundheit schwächten und wohl auch zu seinem frühen Tod führten.
Die tschechische Nationalhymne, mit dem Text von Josef Kajetán
Tyl und der Musik von František Škroup |
Die Nationalhymne, deren Textautor er ist, durfte bis 1938 auch auf Deutsch
gesungen werden: „Wo ist mein Heim? / Mein Vaterland?“ sangen die
Deutschböhmen, „Kde domov můj ? Kde domov můj ?“ war, mit zwei gleichlautenden
Zeilen, die rhetorische Frage der Tschechen. Warum diese Divergenz? Ach, die
ewige und immer wieder gestellte Frage nach dem Unterschied zwischen „Heimat“
und „Vaterland“.
„Was bedeutet für Sie ‚Heimat’?“ werde ich bei Lesungen aus meinem Buch
„Böhmen hin und zurück“ oft gefragt. Manchmal helfe ich mir mit hochtönenden
Zitaten über die Runden – „Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl“, „Heimat
ist der Ort, wo sie einen hereinlassen müssen, wenn man wiederkommt“ –, andere
Male, wenn der Hörerkreis kleiner und intimer ist, bekenne ich meine
Vorstellung von „Heimat“: dass es für mich der Ort ist, wo ich alle Leute
umarmen möchte, wo ich auch im Dunkeln keine Angst habe, wo ich mich einfach
wohl fühle. Also domov můj im
Tschechischen: mein Heim, meine Heimat, mein Zuhause. Und das hat nichts mit
dem „Vaterland“ zu tun, das an Fahnenschwingen, rhetorische Reden und (leider
auch manchmal) nationale Verbissenheit denken lässt und bei den Tschechen vlast heißt.
Das war jetzt eine Geschichte, die vielleicht weniger mit Pilsen, aber
dafür mehr mit meinen böhmischen Wurzeln zu tun hat, mit meiner Suche nach
einer Heimat. Aber doch auch mit Pilsen: Wenn ich über den Hauptplatz Náměstí
Republiky gehe oder im Ateliér Jiřího Trnky das schöne, volle,
weiche böhmische Gesicht des in Pilsen geborenen Animationskünstlers Jiří Trnka sehe, wenn ich durch die
sanfte Hügelwelt um Pilsen fahre und aus Bedřich Smetanas sinfonischem Zyklus
„Má vlast“ ein Motiv aus dem vierten Teil „Z českých luhů a hájů /Aus Böhmens
Hain und Flur“ vor mich hinträllere, dann
bin ich sicher: Das hier ist domov můj.
Meine Heimat. Allerdings nicht mein Vaterland.
1 Kommentare:
Liebe Frau de Concini,
ich finde all Ihre bisherigen Berichte in diesem blog über Pilsen sehr interessant, und man darf sich auf die nächsten knappen 5 Monate, die Sie hier schreiben werden, sehr freuen.!!
Ich bin jedenfalls immer sehr gespannt, auf die nächsten Berichte.
Sie könne gerne jeden Tag einen Neuen bringen:-) !!
Ich habe Ihr Buch "Böhmen hin und zurück " übrigens auch.
Viel Freude weiterhin bei Ihrer Arbeit.
S. Buck
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