Montag, 13. Juli 2015

Zwischen Hřešihlavy und Kasejovice


Von einem jüdischen Friedhof zum anderen

Vielleicht übertreibe ich es mit den Friedhöfen. Mit christlichen und jüdischen. Aber wie ich gestern bemerkt habe, bin ich nicht die Einzige, die gern Friedhöfe besucht. Beatrijs, die holländische Frau des tschechischen Konzertgitarristen Jan Irving und Seele des eleganten Restaurants „La Boema“ in Radnice, warf erst einmal einen Blick auf meine Schuhe. Da sie sie für fest genug befand, schlug sie mir einen Ausflug nach Hřešihlavy vor. Eben zu einem jüdischen Friedhof.

Kein Schild zeigt ihn an, und man muss eine kurze Wanderung in Kauf nehmen, um ihn zu erreichen. In einem Wald. Kein düsterer Wald. Düster sind die Wälder nicht in dieser Gegend im Umkreis von Pilsen. Dunkel und düster, und manchmal unheimlich und gespenstisch, werden sie erst weiter im Süden, im Böhmerwald. Der Friedhof ist nicht gepflegt, aber auch nicht eigentlich vernachlässigt. Naturbelassen, könnte man sagen. Wie es die Juden mögen. Hier und da ein auf den Grabsteinen hinterlassener „Anklopfstein“. Ein Zeichen, dass doch immer wieder einmal jemand vorbeikommt und sich der Toten erinnert.








Seit dem 17. Jahrhundert hatte es in Hřešihlavy eine jüdische Gemeinde gegeben, eine offensichtlich sehr lebendige Gemeinde, die bald so rasch anwuchs, dass die Juden im Jahr 1841 die Mehrheit der Bevölkerung stellten: 51 Prozent.

Etwas mehr als fünfzig Grabsteine stehen noch auf dem Friedhof. 1826 wurden die ersten Toten begraben, in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts die letzten. Pflanzenumhüllte, moosbewachsene, wacklige und wieder aufgerichtete Steine, die tausend Geschichten erzählen. Erosion und Vandalismus stellen heute eine Gefahr für die Gräber in diesem Wald dar, der, wie gesagt, nicht eigentlich düster ist. Aber bei Nacht möchte ich trotzdem nicht vorbeikommen.




Heute war ich ausgesprochen sonntagsfaul. Das darf man auch als Stadtschreiberin sein. Keine Termine, keine Meetings, auch keine Rendezvous. Also einfach über Land fahren, fast ziellos, ohne Zeitdruck und ohne das Nachher-Schreiben-Müssen. Aber auch dabei gibt es immer Neues zu entdecken.

In Nové Mitrovice im südlichen Pilsner Land läuten die Glocken gerade zum Sonntagsgottesdienst.

Die barocke Nepomuk-Kirche in Nové Mitrovice

Der Pfarrer ist per Motorroller angereist.


Blick in den festlich geschmückten barocken Kircheninnenraum

In Kasejovice, einem Städtchen einige Kilometer weiter südlich, weist ein Schild auf den židovský hřbitov hin: Könnte ich es ignorieren? 

Uralte, inzwischen namenlose Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Kasejovice, der schon im 17. Jahrhundert gegründet wurde.
 
Neben den Grabsteinen mit den für die Meisten unverständlichen hebräischen Schriftzeichen hier in Kasejovice einmal ein Grabstein mit einer deutschsprachigen Inschrift



Und an den Farben der Landschaft erkenne ich, wie viel Zeit schon seit meiner Ankunft in Pilsen vergangen ist.

Das leuchtende Gelb der Rapsfelder im Frühjahr ist dem sanften, blonden Goldgelb der sommerlichen Kornfelder gewichen.

Samstag, 11. Juli 2015

Am Fuß des Böhmerwaldes


Ein fröhlicher Friedhof

Ein schöner Friedhof. Gekreuzigte, die massenweise und wie Hilfe suchend die Arme gegen den Himmel strecken. Das war mein Eindruck, als ich heute – auf dem Rückweg von Dobrá Voda bei Hartmanice mit dem einzigartigen Glasaltar in der Guntherskirche – 


Die Kreuzigungsgruppe ...

... Heiligenfiguren ...

... und die Verkündigungsszene des einzigartigen Glasaltars, den die tschechische Glaskünstlerin Vladěna Tesařová im Jahr 2001 für die Guntherskirche in Dobrá Voda fertiggestellt hat.


das Dörfchen Javorná na Šumavě besuchte. Eigentlich wollte ich nur den Spuren meines Priesteronkels Adolf Rudy nachgehen. Adolphus Rudy heißt er in dem Archivdokument, das mir Václav Kubeš, Vizekanzler und Archivar des Bistums Budweis, freundlicherweise gescannt und per E-Mail zugesandt hatte. Das die folgende Aufzeichnung enthielt: „Seewiesen, administrator interc. 1. maji – 30. novembr. 1926“. Als 32-jähriger Geistlicher hatte mein Onkel also einige Monate in Seewiesen gedient. Hier in Javorná na Šumavě südlich von Klatovy, am Fuß des Böhmerwaldes.

Im Dorf werden etliche Häuser renoviert, die teilweise mit Holzschindeln verkleidete, barocke Annakirche ist in gutem Zustand. Dann die Überraschung, als ich den Friedhof betrete. Einige strenge Marmorgrabsteine mit tschechischen Namen. Sonst aber über das ganze Kirchhofsgelände verstreute eiserne Grabkreuze. Christus am Kreuz. Dutzendfach vervielfacht. Eine frappierende Wirkung. 

Der vervielfältigte Gekreuzigte auf dem Friedhof in Javorná na Šumavě

Was den bizarren Eindruck noch verstärkt und den Kreuzen ihre Memento-mori-Mahnung nimmt, ist die Tatsache, dass die Namen an den meisten Grabmälern fehlen. Sicher waren es deutsche Namen gewesen, Namen der einst deutschsprachigen Bewohner von Seewiesen, die sich an den Kreuzen befunden hatten, dann aber der Zeit oder dem Nicht-erinnern-Wollen der jetzt tschechischen Einheimischen zum Opfer gefallen sind.




Vor lauter Verblüffung über dieses Christus-am-Kreuz-Wäldchen habe ich vergessen, die Grabkreuze zu zählen: Sicher sind es an die vierzig, fünfzig, meine ich. Auf einem winzigen Friedhof in einem winzigen Dorf. Sie müssen in Serienproduktion angefertigt worden sein, mit unterschiedlicher Bemalung wohl nach den Wünschen der Auftraggeber. So sinnlos diese namenlosen Kreuze auf ungepflegten, verwahrlosten, teils nicht mehr erkennbaren Gräbern heute auch sein mögen – sie machen doch deutlich, dass nicht alles „Deutsche“ von den hier lebenden Tschechen ausgemerzt worden ist. Was Herz und Seele erfreut. Wie der multiplizierte Gekreuzigte. Über den man lächeln möchte, wenn man das auf einem Friedhof im Angesicht von Toten darf. Ich habe es getan, im Schutz des vor das Gesicht gehaltenen Fotoapparates. Eine Frau auf dem Friedhof hat es sicher nicht bemerkt. Christus schon. Aber er, der Tolerante, hat keinen Anstoß daran genommen.

Die holzverkleidete Fassade der Annakirche in Javorná na Šumavě



Mittwoch, 8. Juli 2015

Ein tschechischer Fotograf macht von sich reden


Lukáš Houdek und seine Kreationen

Jung, aber schon weltberühmt: der tschechische Fotograf Lukáš Houdek

Schimpf und Schande über ihn! Wie konnte er, ein nicht einmal dreißigjähriger tschechischer Grünschnabel, es wagen, seinen Landsleuten die Untaten vor Augen zu halten, die während der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg begangen wurden? Mit welcher Courage sie vor der Welt schlecht machen? Öffentlich zeigen, was sie selbst lange verschwiegen und als Tabu verborgen gehalten hatten: dass im Sommer 1945 (und dies sind nur einige Beispiele) in Mirošov u Rokycan mehrere Dutzend Kriegsgefangene getötet und in ein Massengrab im Schlosspark geworfen worden waren, dass im Juni 1945 in Domažlice an die 120 Böhmendeutsche summarisch hingerichtet und in einer Müllkippe begraben worden waren, dass es im Juni 1945 in Žatec zu Massenvergewaltigungen von deutschen Frauen und Kindern gekommen war?

Der so Geschmähte ist Lukáš Houdek, ein im Jahr 1984 in Stříbro geborener tschechischer Fotograf. Und diese Beschimpfungen gingen durch die Presse, als er im Jahr 2012 sein erstes „Vertreibungsprojekt“ präsentierte: „Umění zabíjet“ (Die Kunst des Tötens), gefolgt von „Umění dosídlit“ (Die Kunst des Besiedelns), „Odložené životy“ (Vergessene Leben) und „Musís zapomenout na Johanna“ (Du musst Johann vergessen). 

Eine Szene aus der Bilderfolge „Die Kunst des Tötens“



Eine Szene aus der Bilderfolge „Die Kunst des Besiedelns“






Drei Szenen aus der Bilderfolge „Du musst Johann vergessen“


Nach gründlichen Archivrecherchen und dem Anhören von Zeitzeugen macht Lukáš Houdek sich an die Arbeit, fotografiert (oft mit Barbiepuppen) nachgestellte Szenen und mit echten sudetendeutschen Trachten angetane Strohpuppen, macht Aufnahmen von Totenporträts auf verfallenen, ehemals deutschen Friedhöfen im heutigen Tschechien und geht der Geschichte der Verstorbenen nach. Immer mit Schwarzweißaufnahmen, die das Irreal-Beklemmende noch beunruhigender machen.

Die Installation „Vergessene Leben“ im oberpfälzischen Kloster Speinshart

Wie er in Tschechien (aber nicht von allen seinen Landsleuten) moniert wurde, so wurde er gleich bei seinem ersten „Vertreibungs-Auftritt“ im Ausland bekomplimentiert. In Deutschland, aber auch in Italien wurden ihm Ausstellungen organisiert, die großen Widerhall fanden: Er war eben einer aus der jungen Generation der Tschechen, der die Augen vor Geschehenem – auf der einen wie auf der anderen Seite – nicht verschloss und wissen, erfahren, verstehen wollte. Und jetzt reißen sich auch die tschechischen Städte um ihn.

Vom odsun (Abschub), wie die Tschechen die Zwangsaussiedlung der Böhmendeutschen bezeichnen, ist Lukáš Houdek bis heute nicht losgekommen. Er plant ein neues, interaktives Fotoprojekt, bei dem er wieder von alten Fotos ausgeht, die – wie Internet- und Facebook-Freaks heute – miteinander bloggen. Auch die Ironie hat ihn niemals verlassen, eine beißende Ironie, die  zu Sarkasmus werden kann und doch von Feinfühligkeit getragen wird. Denn Lukáš ist ein freundlicher, liebenswerter junger Mann. Und ein großer Fotograf.

So dürfen wir auf andere Projekte gespannt sein, die ihn auch einmal vom odsun und aus seiner böhmischen Heimat wegführen. Lukáš weiß nach anfänglichen, originellen Ideen schon immer genau, in welche Richtung seine Arbeiten dann laufen. Denn sonst wäre er nicht er: kein rasender Reporter, sondern ein Fotokünstler, der bedächtig und umsichtig vorgeht und immer wohl durchdachte Projekte präsentiert. Fantasie ja, aber keine Improvisation.

Bei einem anderen Plan, von dem er mir bei unserer kürzlichen ersten Begnung nach dreijährigem Mailen erzählte, bin ich mir nicht sicher, ob er es ernst meinte oder nicht: eine organisierte Busreise von Neu-Miesern (Stříbro hieß bis 1945 auf Deutsch Mies und in die von den vertriebenen Böhmendeutschen verlassenen Häuser sind in den fünfziger Jahren tschechische Neusiedler nachgezogen) nach Deutschland zu Alt-Miesern. Um sich ihre Häuser anzuschauen – wie die einstigen Bewohner von Stříbro immer wieder nach Böhmen kommen, um einen Blick in ihre ehemaligen Wohnungen zu werfen.

Ich kann Lukáš Houdek und seinen Absichten aufrichtig folgen, bewundere sein fotografisches Können und seine Sensibilität, mit der er auch heikle Sujets aufgreift: Vor den Vertriebenen hatte er in seinen Arbeiten Roma, Gays und Transgender thematisiert. Aber in einem stimme ich nicht mit ihm überein: Ich mag Dillsoße. Er nicht.




 Meine Schutzengel



Heute: Tereza Svášková

Es geht ihr wie mir: Sie liebt ihre Geburtsstadt, obwohl sie keine Erinnerungen an sie hat. Wie ich. In meinem Fall ist es Trutnov/Trautenau, sie ist 1989 in Liberec (ehemals zu Deutsch Reichenberg) geboren. Ich war fünf, als ich aus meiner Heimat weg musste. Sie zog im Alter von erst einem Jahr mit ihren Eltern nach Lázně Toušeň, einen Marktflecken bei Prag, wo sie aufwuchs. Doch bald suchte sie Größeres, Weiteres. Zum Studium kam sie nach Pilsen, besuchte die Abteilung für Mittelöstliche Studien an der Westböhmischen Universität. Und lernte Arabisch. So gut, dass sie als Übersetzerin aus dem Arabischen ins Tschechische tätig war, und mit solcher Begeisterung, dass sie zur Leiterin des alljährlichen Festivals für arabische Kultur in Pilsen berufen wurde. Mit nicht einmal 25 Jahren.

Tereza Svášková
Tereza Svášková – denn von ihr ist hier die Rede – ist in diesem Jahr für OPEN A.i.R. von Pilsen2015 verantwortlich: Sie betreut die Künstler und Künstlerinnen – Tänzer, Maler, Bildhauer, Schriftsteller und deren weibliche Pendants –, die in Pilsen auf Einladung der Kulturhauptstadt gastieren und logieren.

Auch mir hilft sie seit meiner Ankunft im April in allen Lebenslagen: bei der Suche nach Terminen, Kontakten und Eintrittskarten, mit Ratschlägen und Tipps zu den interessantesten Events. 

Gewiss nicht leichte Aufgaben für eine so junge Frau. Die sie mit unermüdlicher Beharrlichkeit und unglaublicher Präzision meistert. Ich frage mich, ob und wann sie überhaupt zum Schlafen kommt. Aber sie wirkt immer gelassen und ausgeglichen. Mit offenen Augen und Ohren für Wünsche und Bedürfnisse der ihr Anvertrauten.

Tereza, viel Erfolg im Leben! Du hast es dir verdient, weil du kämpfst, ohne kämpferisch zu wirken.




Freitag, 3. Juli 2015

Jan-Hus-Ausstellung auch in Pilsen


„Im Jahr 1415 und 600 Jahre später“

Vom Denkmalsockel herab wendet er, von dunklen Wolken umhüllt, der Kirche ostentativ den Rücken zu. Ostentativ-herausfordernd? So hätte sich Mistr Jan Hus – denn ihm ist das Monument gewidmet – der Kirche gegenüber nicht verhalten wollen.

Das 1921 aufgestellte Jan-Hus-Denkmal in Radnice

Die barocke Wenzelskirche steht am Hauptplatz von Radnice, einem westböhmischen Städtchen rund 20 Kilometer nordöstlich von Pilsen. Und schon im Jahr 1921, also eigentlich kurze Zeit nach der Auflösung der Habsburgermonarchie und der Gründung der ersten Tschechoslowakischen Republik, spendeten die Bürger von Radnice Geld zur Errichtung des Jan-Hus-Denkmals. Denn der um 1369 geborene tschechische Prediger und Reformator war im 19. und 20. Jahrhundert zum Sinnbild der gegen Fremdherrschaft aufbegehrenden, nationalbewussten Tschechen erhöht worden. Was er wahrscheinlich gar nicht gewollt hätte. Sicher, er hatte auf Tschechisch gepredigt und die Missstände in der Kirche angeprangert, deren hohe Kirchenämter besonders in deutschen Händen waren. Auch hat er – zur Verzweiflung aller Tschechisch-Schüler – in dem ihm zugeschriebenen Traktat „De orthographia bohemica“ die an tschechischen Buchstaben angebrachten diakritischen Zeichen eingeführt.

Doch Jan Hus war es, rund hundert Jahre vor Martin Luther, vor allem darum gegangen, die etwas altersschwere, unbewegliche und moralisch nicht immer fleckenlose Kirche zu modernisieren und zu verbessern. Er geriet dabei – aber es ist vermessen, sein Leben und Wirken in wenige Worte fassen zu wollen – in die Mühle zwischen Päpsten und Gegenpäpsten, Kirche und Königtum und wurde am 6. Juli 1415 während des Konzils von Konstanz zum Feuertod verurteilt. 

Jan Hus auf dem Scheiterhaufen, aus der 1484/85 verfassten Spiezer Chronik


Schon Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde der 6. Juli in Tschechien (damals Tschechoslowakische Republik) zum Staatsfeiertag erhoben, zum Den upálení mistra Jana Husa, dem „Tag der Verbrennung von Jan Hus“. In diesem unserem Jahr 2015 nun wird weltweit der 600. Todestag des christlichen Theologen begangen, mit Ausstellungen, Vorträgen, Tagungen, Theaterstücken, Verfilmungen und was sonst alles zu einem solchen Anlass auf die Beine gestellt werden kann.

Auch Pilsen hat eine Jan-Hus-Ausstellung ausgerichtet beziehungsweise von den Hus-Museen in Konstanz und Tábor übernommen. Im Museum für Kirchenkunst im ehemaligen Franziskanerkloster sind bis zum 31. Juli 14 Text-Bild-Tafeln zum historischen Umfeld wie zum Leben und Wirken von Jan Hus zu sehen, ergänzt durch Exponate des Westböhmischen Museums Pilsen. 

Blick in den gotischen Kreuzgang des ehemaligen Franziskanerklosters in Pilsen, heute Museum für Kirchenkunst und bis Ende Juli Austragungsort der Ausstellung „Jan Hus im Jahr 1415 und 600 Jahre später“

Eine lehrreiche Ausstellung – mit einer amüsanten Note: Im Jahr 1922 gab die Stadt Konstanz, wo Jan Hus den Tod gefunden hatte, Not-Papiergeld in verschiedenen Werten heraus. Auf dem 100-Mark-Schein ist zu lesen: „O Hus, um deines Glaubens Lehr / würdest du heut nit verbronnen mehr / dieweil durch schnöden Wuchers List / das Brennholz viel zu teuer ist“. Wozu ein historisches Ereignis nicht alles genutzt werden kann!

600. Todestag hin, 600. Todestag her – eine Rehabilitierung des als Ketzer verbrannten Reformators Jan Hus seitens der katholischen Kirche steht immer noch aus. Doch erste Anzeichen einer Wende sind zu bemerken: Papst Franziskus feierte vor Kurzem in Rom eine Versöhnungsliturgie, gemeinsam mit Kirchenvertretern aus der Tschechischen Republik. Auch der Pilsner Bischof František Radkovský war dabei. Er scheint bei diesem Prozess zur gerechten Beurteilung von Jan Hus eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen.

Wer weiß, wann der Denkmal-Hus in Radnice sich wieder ganz der (Wenzels-)Kirche zuwenden kann?

Dieses Jan-Hus-Denkmal in Klášter beim Pilsen-nahen Städtchen Nepomuk erinnert an das Jahr 1925, als der 6. Juli zum  Staatsfeiertag erklärt wurde.
  
Noch eine Nachbemerkung:
Auf der (heute) tschechischen Präsidentenstandarte sind seit der Zeit von Tomáš Garrigue Masaryk, der von 1918 bis 1935 tschechoslowakischer Staatspräsident war, folgende Hus-Worte zu lesen: „Pravda vítězí“ – „Die Wahrheit siegt“. Allerdings ist das Zitat nicht vollständig wiedergegeben: In Wirklichkeit lautet es „Pravda Páně vítě“ – „Die Wahrheit des Herrn siegt“. Ein kleiner, aber gewiss nicht geringfügiger Unterschied. Denn dieser „Herr“ wird aus dem öffentlichen wie privaten Leben in Tschechien bis heute gern ausgeklammert.



(Západočeské muzeum v Plzni / Muzeum církevního umění plzeňské diecéze – Westböhmisches Museum Pilsen / Museum für Kirchenkunst der Diözese Pilsen)

Mittwoch, 1. Juli 2015

Tod eines Wohltäters

Nicholas Winton gestorben

Es passiert mir ständig seit dem Beginn meiner Tätigkeit als Stadtschreiberin in Pilsen: Themen berühren sich, erweitern sich, schließen sich. Gerade gestern hatte ich einen Post über die jüdischen Auftraggeber von Adolf Loos eingestellt. Heute lese ich in den von Martina Schneibergová verfassten Radio-Prag-Nachrichten: „Im Alter von 106 Jahren ist am Mittwoch (Anmerkung: also heute) Sir Nicholas Winton gestorben, der kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs über 650 tschechoslowakische jüdische Kinder vor dem Tod rettete. [...] In den Jahren 1938 und 1939 gelang es Winton, Hunderte von jüdischen Kindern aus dem Protektorat nach London zu bringen. Er organisierte Sonderzüge für die Kinder sowie dann Adoptiveltern in Großbritannien …“

Nicholas Winton (1909–2015)

So lasse ich den Jan-Hus-Post, den ich gerade in Arbeit habe, vorübergehend beiseite und gehe auf Suche im Internet. Ergebnis? Unter den jüdischen Kindern aus Pilsen, die von Nicholas Winton in Sicherheit gebracht wurden, war auch Eva Brummel, die am 20. Juni 1923 geborene Eva Brummelová, die das Gymnasium am Mikulášské náměstí, dem Nikolausplatz vor dem gleichnamigen Pilsner Friedhof, besucht hatte. Und die mit ihren Mitschülern und Mitschülerinnen – unter ihnen waren auch weitere Klassenkameraden jüdischer Abstammung, die teils in Vernichtungslagern umkamen, teils überlebten – viele Stunden im Brummel-Haus verbracht hatte, von dem in meinem gestrigen Eintrag die Rede war. 

Die 1923 in Pilsen geborene und von Nicholas Winton gerettete Eva Brummelová
Und wer weiß. wie viele andere Verbindungen sich herstellen ließen. Aber für heute nur diese Informationen. Die mich zu einem weiteren „Gerechten unter den Völkern“ (dieser Titel ist die höchste Auszeichnung, die in Israel vergeben wird) führen, der mit Ortschaften im Pilsner Raum in Beziehung stand: Přemysl Pitter, auch er eine Art „tschechischer Schindler“, zu dem ich ebenfalls schon Material gesammelt habe. Er hatte 1938 in einem Sommerhaus in Mýto gut 20 Kilometer östlich von Pilsen Kinder aus verfolgten jüdischen und aus antifaschistischen deutschen Familien aufgenommen und gerettet. Auch über ihn demnächst mehr.
 

www.radio.cz/de



Dienstag, 30. Juni 2015

Noch einmal zu Adolf Loos


Der Brünner Architekt und seine Pilsner Auftraggeber

Sie waren seine Klienten, und so möchte ich heute etwas über sie und ihre Familien erzählen. Auch über ihr Schicksal, ihr meist tragisches Schicksal. Es waren wohlhabende jüdische Unternehmer in Pilsen, und in Adolf Loos hatten sie einen Innenarchitekten und Designer gefunden, der das Kapital der viel beschäftigten Männer zur Freude der verwöhnten, gelangweilten Frauen in Wohnungsinterieurs umzusetzen verstand. In Inneneinrichtungen, die noch heute, nach fast hundert Jahren, unglaublich schön, elegant und zeitlos wirken und jedem Designer auf der Suche nach Stil und Funktionalität als Vorbild dienen sollten.

Adolf-Loos-Porträt in der Wohnung in der Bendova Nr. 10 in Pilsen

Tragische Geschicke also unter Adolf Loos’ Auftraggebern. Geschicke, die nach Theresienstadt und Auschwitz führen. Und nach Olmütz, wo Edita Hirschová im September 1942 in den Zug AAo nach Theresienstadt und von dort in den Zug Cu nach Auschwitz gesetzt wurde. Wo sie starb. Nein, Edita Hirschová/Edith Hirsch gehörte nicht zum Kundenkreis von Adolf Loos. Sie war eine 1908 geborene, junge tschechische Malerin, die sich in Paris eine vielversprechende Karriere aufzubauen begonnen hatte, als sie zur Todesfahrt verhaftet wurde. Im Haus der mit ihr verwandten Familie Brummel in der Husova in Pilsen befindet sich ein Gemälde von ihr. Und der Guide wird es nicht müde, von ihr zu erzählen.

Die tschechisch-jüdische Malerin Edita Hirschová (1908–1942)

Ein Gemälde von Edita Hirschová im Brummel-Haus in der Husova Nr. 58

Dieses vom österreichischen Maler Robert Aigner (1901–1966) geschaffene Fresko einer südländischen Landschaft sollte Bewohner und Besucher der Wohnung in der Husova Nr. 58 vom Blick auf die hässlichen Industriebauten ringsum ablenken.

Er erzählt auch von der Familie Liebstein, die das Haus Husova Nr. 58 erworben hatte, vom Zusammenleben der Witwe Hedvika/Hedwig Liebstein mit Jana und Jan Brummel, ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn. Hedvika Liebstein kam 1943 in einem Konzentrationslager ums Leben, Jan und Jana überstanden Theresienstadt und Auschwitz und Bergen-Belsen und kehrten nach dem Krieg wieder in ihre tschechoslowakische Heimat zurück.

Grabstein für Hedvika Liebsteinová und ihren Mann Wilhelm Liebstein auf dem jüdischen Friedhof in Pilsen


Wohnung im Brummel-Haus in der Husova Nr. 58


Farbliche Harmonie bis ins kleinste Detail

Eine der schönsten Loos’schen Inneneinrichtungen, die Pilsen zu bieten hat, ist die Wohnung in der Bendova Nr. 10. Vilém Kraus und seine Frau Gertrud, eine Tochter des Chemiefabrikanten Taussig, waren die Besitzer. Vilém (oder Willy oder Wilhelm) gelang es im Jahr 1939 rechtzeitig, sich nach England abzusetzen. Seine Frau und seine zwei Kinder schafften es nicht, ihm nachzureisen. Sie wurden am 18. Januar 1942 nach Theresienstadt transportiert, dann weiter ins Ghetto Zamość in Ostpolen. Wahrscheinlich wurden sie dann in einem Vernichtungslager in Polen – Belżec oder Sobibor – ermordet.

Interieur in der Bendova Nr. 10 mit der Loos'schen Handschrift: edelste Materialien und glänzende Spiegel




Raffiniert ausgeklügelte Durchblicke

Loos’ Lieblingsfarben: Rot, Blau und Grün – hier (oben und unten) in der Wohnung Bendova Nr. 10






Zur organisierten Loos-Tour in Pilsen gehört auch die Wohnung in der Klatovská třída Nr. 12, die gegen Ende der zwanziger Jahre von Josef Vogl und seiner Frau Štěpánka den Bedürfnissen einer Arztpraxis plus Wohnung angepasst wurde. Zuvor hatten hier der Drahtgitterfabrikant Otto Beck und seine Frau Olga gelebt, hier waren auch die Kinder geboren: 1903 Eva, 1904 Klara und 1910 Max-Klaus.

 
Wohnung in der Klatovská třída Nr. 12

Adolf Loos’ Schwiegermutter Olga Beck, die Frau von Otto Beck, einem seiner ersten Bewunderer in Pilsen, kam 1942 in einem KZ ums Leben. Und ihre Tochter Klara/Claire Beck, Adolf Loos’ dritte Frau, die vom September 1941 an den Judenstern tragen musste, starb zu einem unbestimmten Datum im Ghetto oder KZ in Riga. Loos hatte diese Tragödien nicht mehr erlebt. Er war schon im Jahr 1933, wenige Monate nach der Scheidung von Claire/Klara Beck, in einem Sanatorium bei Wien gestorben. 

Klara/Claire Beck, Adolf Loos’ dritte Frau (1904–1942?)

Olga Beck, Klaras Mutter (1879–1942)



Der Grabstein für Otto Beck, Klaras Vater, und Eva Schanzer, Klaras Schwester, auf dem jüdischen Friedhof in Pilsen


Kein Adolf-Loos-Interieur in Pilsen ohne ein tristes Umfeld. Was einen Besuch dieser Wohnungen über das ästhetische Erlebnis hinaus zu einer großen, unvergesslichen Emotion macht. Und Adolf Loos’ Probleme mit der Justiz – gerade in seiner Pilsner Zeit Ende der zwanziger Jahre kam er wegen Unzucht vor Gericht – lässt man für die Dauer der Besichtigung am besten vor der Haustür (der sowieso äußerlich wenig attraktiven Häuser, die ich schon in einem vorausgegangenen Post vom 4. Juni – „Adolf-Loos-Interieurs einmal anders. Pilsner Loos-Wohnungen von außen“ – gezeigt hatte).

Mit Claire/Klara Beck und ihren Eltern Otto und Olga Beck habe ich mich jetzt einem Thema genähert, das ich – nach eingehenden Recherchen vor Ort – nach meinem Pilsen-Aufenthalt (muss er wirklich aufhören?) ausarbeiten will. Vielleicht wird eine Biografie über Klara/Claire Beck/Becková daraus?

Mein Hund Zampa studiert inzwischen die Apps zur Besichtigung der Loos-Interieurs ...



… und im nahen Intellektuellentreff „Inkognito“ scheint man von den Loos’schen Farbkombinationen gelernt zu haben.


Samstag, 27. Juni 2015

Eine unerwartete Begegnung


Maruška und Herr Lederer

Es geht mir immer so: Ich treffe mich in Pilsen oder einem Pilsen-nahen Ort mit einer Person, um sie kennen zu lernen, von ihr zu erzählen und über ihre Arbeiten oder Projekte zu berichten. Gewöhnlich kommt Interessantes dabei heraus, was ich dann für meine Posts verwende. Aber meistens ergibt sich aus der Begegnung und dem Gespräch dann unerwartet auch immer ein ganz neues Thema.

Ein „kaschiertes“ Selbstporträt von mir
 
So hatte mir meine tschechische Freundin Lenka geraten, doch einmal nach Mešno hinüberzufahren. Das nicht einmal 100-Seelen-Dorf liegt an die 20 Kilometer südöstlich von Pilsen, auf halbem Wege zwischen Mirošov, auf dessen Schlossgeschichte ich noch zurückkommen werde, und dem ganz und gar barock geprägten Städtchen Spálené Poříčí, wo in wenigen Tagen die symbolische Eröffnung des bewundernswert organisierten Festivals „9 TÝDNŮ BAROKA/9 WOCHEN BAROCK“  stattfindet (es dauert vom 29. Juni bis zum 30. August). Eine Frau aus dem Ort habe, so hatte mir Lenka erzählt, dort in Mešno ein kleines volkskundliches Museum zusammengestellt, ganz aus eigener Initiative und aus eigenen Kräften.

So mache ich mich auf die Suche nach Marie Musilová – was in einem so kleinen Dorf kein Problem ist. Maruška? Ja, die wohne dort drüben, in dem gelb-blauen Haus bei der Kirche. Ich möchte inzwischen gern die Kostel Nejsvětější Trojice besuchen, die nach dem Brand einer älteren Barockkapelle vor 110 Jahren in neugotischem Stil wiederaufgebaute Dreifaltigkeitskirche. Aber sie ist geschlossen. Wie fast alle Kirchen in Tschechien. Und Marie-Maruška, die inzwischen herübergekommen ist, schämt sich wegen der ungekehrten, blätterbedeckten Stufen um die Kirche.

Marie Musilová am Eingang zum 300 Jahre alten Speicher

Da sieht es bei ihr ganz anders aus. Im gepflegten Garten ihres Hauses laden attraktiv gestaltete Tafeln zum Besuch des Mešenský špejchárek ein, des kleinen, aus dunklen Holzbalken gezimmerten „Kornspeichers in Mešno“. Sie tut eine Tür auf – „Sie ist 300 Jahre alt, wie der Speicher“ – und zeigt stolz, was sie hier alles zusammengetragen hat: Tassen und Flaschen, Pfannen, Messer und Gabeln, Kannen, Krüge und Waschschüsseln, Ton- und Emailtöpfe, Kaffeemühlen, Reibeisen, Bügeleisen und Nachttöpfe, Stickereien und Häkelarbeiten, fromme Bilder und Kruzifixe und vieles andere mehr. Was sie im Dorf finden konnte, hat sie hier in den Speicher gebracht, den sie mit ihrer Familie in monatelanger Arbeit restauriert hat. 

Alte Balken des Speichers






Vor dem Speicher macht sie mich auf eine Bildtafel mit einem holzgerahmten Foto aufmerksam: „Maruška“ weist ein Pfeil auf ein kleines Mädchen. Es ist ihre im Jahr 1921 geborene Mutter, Marie-Maruška wie sie, auf dem Foto mag die Mutter sechs Jahre alt sein. Also um das Jahr 1927. Auf der einen Seite von Maruška steht der damalige Pfarrer von Mešno, auf der anderen Richard Lederer. Er hatte einen Gemischtwarenladen, ein fleißiger, im Dorf beliebter und geschätzter Geschäftsmann. Der auf einmal, gegen Anfang der vierziger Jahre, keine Stoffe und Strümpfe und Waschmittel und Gewürze mehr verkaufen konnte. Durfte. Denn er war Jude. Und nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nicht mehr aus Auschwitz zurück.

Richard Lederer, Maruška und der Pfarrer von Mešno auf einem Foto um das Jahr 1927

Im ebenfalls jahrhundertealten Wohnhaus zeigt Marie Musilová mir das Originalfoto von ihrer Mutter Maruška, dem christlichen Pfarrer und dem jüdischen Händler. Auch ihr scheint die Geschichte sehr zu Herzen zu gehen.

Ohne es zu wollen, komme ich hier in und um Pilsen von gewissen Themen nicht weg: von der Vertreibung der Deutschen, von der Nichtakzeptanz der Roma und von der Verfolgung der Juden. Allein aus der Stadt Pilsen wurden im Januar 1942 etwa 2600 Juden, die in das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben der Stadt bestens eingegliedert waren, in deutsche Konzentrationslager abtransportiert. Die wenigsten überlebten. Den gleichen tragischen Weg gingen viele andere jüdische Mitbürger aus Städten und Dörfern der Region. Unter ihnen auch Richard Lederer aus Mešno. Ein Einzelschicksal dieses Völkermords ist oft bewegender und erschütternder als tausend Zahlen.