Maruška und Herr Lederer
Es geht mir immer so: Ich treffe mich in Pilsen oder einem Pilsen-nahen Ort
mit einer Person, um sie kennen zu lernen, von ihr zu erzählen und über ihre
Arbeiten oder Projekte zu berichten. Gewöhnlich kommt Interessantes dabei
heraus, was ich dann für meine Posts verwende. Aber meistens ergibt sich aus
der Begegnung und dem Gespräch dann unerwartet auch immer ein ganz neues Thema.
So hatte mir meine tschechische Freundin Lenka geraten, doch einmal nach
Mešno hinüberzufahren. Das nicht einmal 100-Seelen-Dorf liegt an die 20
Kilometer südöstlich von Pilsen, auf halbem Wege zwischen Mirošov, auf dessen
Schlossgeschichte ich noch zurückkommen werde, und dem ganz und gar barock
geprägten Städtchen Spálené Poříčí, wo in wenigen Tagen die symbolische
Eröffnung des bewundernswert organisierten Festivals „9 TÝDNŮ BAROKA/9 WOCHEN
BAROCK“ stattfindet (es dauert vom 29.
Juni bis zum 30. August). Eine Frau aus dem Ort habe, so hatte mir Lenka
erzählt, dort in Mešno ein kleines volkskundliches Museum zusammengestellt, ganz
aus eigener Initiative und aus eigenen Kräften.
So mache ich mich auf die Suche nach Marie Musilová – was in einem so
kleinen Dorf kein Problem ist. Maruška? Ja, die wohne dort drüben, in dem
gelb-blauen Haus bei der Kirche. Ich möchte inzwischen gern die Kostel Nejsvětější Trojice besuchen, die
nach dem Brand einer älteren Barockkapelle vor 110 Jahren in neugotischem Stil
wiederaufgebaute Dreifaltigkeitskirche. Aber sie ist geschlossen. Wie fast alle
Kirchen in Tschechien. Und Marie-Maruška, die inzwischen herübergekommen ist,
schämt sich wegen der ungekehrten, blätterbedeckten Stufen um die Kirche.
Marie Musilová am Eingang zum 300 Jahre alten Speicher |
Da sieht es bei ihr ganz anders aus. Im gepflegten Garten ihres Hauses
laden attraktiv gestaltete Tafeln zum Besuch des Mešenský
špejchárek ein, des kleinen, aus dunklen Holzbalken
gezimmerten „Kornspeichers in Mešno“. Sie tut eine
Tür auf – „Sie ist 300 Jahre alt, wie der Speicher“ – und zeigt stolz, was sie
hier alles zusammengetragen hat: Tassen und Flaschen, Pfannen, Messer und
Gabeln, Kannen, Krüge und Waschschüsseln, Ton- und Emailtöpfe, Kaffeemühlen,
Reibeisen, Bügeleisen und Nachttöpfe, Stickereien und Häkelarbeiten, fromme
Bilder und Kruzifixe und vieles andere mehr. Was sie im Dorf finden konnte, hat
sie hier in den Speicher gebracht, den sie mit ihrer Familie in monatelanger
Arbeit restauriert hat.
Alte Balken des Speichers |
Vor dem Speicher macht sie mich auf eine Bildtafel mit einem holzgerahmten Foto
aufmerksam: „Maruška“ weist ein Pfeil auf ein kleines Mädchen. Es ist ihre im Jahr
1921 geborene Mutter, Marie-Maruška wie sie, auf dem Foto mag die Mutter sechs
Jahre alt sein. Also um das Jahr 1927. Auf der einen Seite von Maruška steht der
damalige Pfarrer von Mešno, auf der anderen Richard Lederer. Er hatte einen
Gemischtwarenladen, ein fleißiger, im Dorf beliebter und geschätzter Geschäftsmann.
Der auf einmal, gegen Anfang der vierziger Jahre, keine Stoffe und Strümpfe und
Waschmittel und Gewürze mehr verkaufen konnte. Durfte. Denn er war Jude. Und
nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nicht mehr aus Auschwitz zurück.
Richard Lederer, Maruška und der Pfarrer von Mešno auf einem Foto um das Jahr 1927 |
Im ebenfalls jahrhundertealten Wohnhaus zeigt Marie Musilová mir das
Originalfoto von ihrer Mutter Maruška, dem christlichen Pfarrer und dem jüdischen Händler. Auch
ihr scheint die Geschichte sehr zu Herzen zu gehen.
Ohne es zu wollen, komme ich hier in und um Pilsen von gewissen Themen
nicht weg: von der Vertreibung der Deutschen, von der Nichtakzeptanz der Roma
und von der Verfolgung der Juden. Allein aus der Stadt Pilsen wurden im Januar
1942 etwa 2600 Juden, die in das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben
der Stadt bestens eingegliedert waren, in deutsche Konzentrationslager
abtransportiert. Die wenigsten überlebten. Den gleichen tragischen Weg gingen
viele andere jüdische Mitbürger aus Städten und Dörfern der Region. Unter ihnen
auch Richard Lederer aus Mešno. Ein Einzelschicksal dieses Völkermords ist oft bewegender und erschütternder
als tausend Zahlen.
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