Samstag, 9. Mai 2015

Ein Fotograf im „alten“ Stil


Radovan Kodera bei „Goran“
Begegnung mit Radovan Kodera

„Wie viele Stufen hier hinaufgehen? Die habe ich, ehrlich gesagt, noch nie gezählt“, gibt er zur Antwort, während wir in sein Atelier hinaufsteigen, im Dachgeschoss eines jahrhundertealten Bilderbuchhauses direkt am Náměstí Republiky. Ich hatte mich mit Radovan Kodera im benachbarten Kaffeehaus „Goran“ verabredet, zu einem turek. Das war jetzt schon mein dritter türkischer Kaffee an diesem Tag. Den ersten hatte ich am Vormittag allein getrunken, den zweiten mit der netten Annette Kraus vor einem Interview mit den deutschsprachigen Sendungen von Radio Prag. Ich kehre hier bei „Goran“immer wieder ein, um dieses wunderbare, von Kaffeesatz durchsetzte Getränk zu genießen, durch das man die beim Durch-Pilsen-Laufen verlorene Energie garantiert wieder zurückbekommt.

Auch Radovan Kodera scheint Stammkunde bei „Goran“ zu sein. Er wird besonders herzlich begrüßt. Schließlich ist er eine Persönlichkeit im Pilsner Kunst- und Kulturleben. Gerade in diesen Tagen ist die von ihm kuratierte Ausstellung Osvobození 1945 ve fotografiích (Die Befreiung 1945 in Fotografien) eröffnet worden, in der Großen Synagoge, die heute als Ausstellungsraum und Konzertsaal mit vorzüglicher Akustik genutzt wird. Für die Ausstellung (sie geht bis Oktober) hat Kodera eindrucksvolle Fotografien des tschechischen Reporters und Fotografen Ladislav Sitenský und aus der Sammlung von Vladislav Vítek zusammengestellt, die von dramatischen Ereignissen bei Kriegsende in Pilsen erzählen.

Radovan Kodera betreut gern Ausstellungen, ist auch Professor an der Ladislav-Sutnar-Fakultät für Design und Kunst der Westböhmischen Universität hier in Pilsen. Aber mit Leib und Seele ist er Fotograf. Schwarzweißfotograf. Mit analogen Fotoapparaten. Wie eigentlich ich. Aber wie hätte ich Schwarzweißfotos von einer Analogkamera in diesen Blog übertragen können? 

Radovan Kodera mit einem Foto aus der Nervenheilanstalt in Dobřany bei Pilsen



Schwarzweißfotograf also. Kodera beginnt in seinen präzis geordneten Mappen zu blättern, holt großformatige Aufnahmen heraus, die durch ihre Kontraste und Formen bestechen. Und durch ihre Sujets. Da sind Aufnahmen von der „samtenen Revolution“ Ende 1989. Von Restaurierungsarbeiten in der Synagoge. Von Kindern, die an Gitterbetten gefesselt sind. Da überläuft es mich kalt. Kodera hat in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in einer Psychiatrischen Heilanstalt fotografieren dürfen: Menschen, denen er bei aller Tragik ihre Würde erhält. In der Klinik in Dobřany. Da will ja auch ich in diesen Tagen hin. Aber nicht, um Fotos zu machen, sondern um tragische Geschehnisse aus den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu dokumentieren.


Meine charmanten tschechischen Dolmetscherinnen
Radovan und ich unterhalten uns mit Hilfe von zwei bildhübschen Dolmetscherinnen, Veronika Dolívková und Markéta Balíková, Oberschülerinnen am angesehenen Masaryk-Gymnasium in Pilsen. Und bevor ich das mit Scheinwerfern und Stativen und Büchern und Fotoapparaten vollgestellte Atelier verlasse, werfe ich noch einen Blick aus dem Fenster. Auf eine faszinierende Dachlandschaft vergangener Jahrhunderte, die einem Bild des Südtiroler Malers Karl Plattner entsprungen sein könnten.

 
Blick aus Radovan Koderas Atelier auf Dächer der Pilsner Altstadt

Eigentlich hatte ich beim Hinuntergehen die Stufen, die von Tausenden von Schritten abgenutzten, ausgetretenen Holzstufen im verwinkelten Treppenhaus, zählen wollen. Aber die Begegnung hatte mich zu sehr beeindruckt, um mich mit banalem Stufenzählen beschäftigen zu wollen.

Děkuji, Radovane!



0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen