„Wie viele Stufen hier hinaufgehen? Die habe ich, ehrlich gesagt, noch nie
gezählt“, gibt er zur Antwort, während wir in sein Atelier hinaufsteigen, im Dachgeschoss eines jahrhundertealten Bilderbuchhauses direkt am Náměstí Republiky. Ich hatte mich mit Radovan Kodera im benachbarten Kaffeehaus „Goran“ verabredet, zu einem turek. Das war
jetzt schon mein dritter türkischer Kaffee an diesem Tag. Den ersten hatte ich
am Vormittag allein getrunken, den zweiten mit der netten Annette Kraus vor
einem Interview mit den deutschsprachigen Sendungen von Radio Prag. Ich kehre
hier bei „Goran“immer wieder ein, um dieses wunderbare, von Kaffeesatz
durchsetzte Getränk zu genießen, durch das man die beim Durch-Pilsen-Laufen
verlorene Energie garantiert wieder zurückbekommt.
Auch Radovan Kodera scheint Stammkunde bei „Goran“ zu sein. Er wird
besonders herzlich begrüßt. Schließlich ist er eine Persönlichkeit im Pilsner
Kunst- und Kulturleben. Gerade in diesen Tagen ist die von ihm kuratierte
Ausstellung Osvobození 1945 ve fotografiích
(Die Befreiung 1945 in Fotografien) eröffnet worden, in der Großen Synagoge,
die heute als Ausstellungsraum und Konzertsaal mit vorzüglicher Akustik genutzt
wird. Für die Ausstellung (sie geht bis Oktober) hat Kodera eindrucksvolle Fotografien
des tschechischen Reporters und Fotografen Ladislav Sitenský und aus der
Sammlung von Vladislav Vítek zusammengestellt, die von dramatischen Ereignissen
bei Kriegsende in Pilsen erzählen.
Radovan Kodera betreut gern Ausstellungen, ist auch Professor an der
Ladislav-Sutnar-Fakultät für Design und Kunst der Westböhmischen Universität
hier in Pilsen. Aber mit Leib und Seele ist er Fotograf. Schwarzweißfotograf.
Mit analogen Fotoapparaten. Wie eigentlich ich. Aber wie hätte ich
Schwarzweißfotos von einer Analogkamera in diesen Blog übertragen können?
Radovan Kodera mit einem Foto aus der Nervenheilanstalt in Dobřany bei Pilsen |
Schwarzweißfotograf also. Kodera beginnt in seinen präzis geordneten Mappen
zu blättern, holt großformatige Aufnahmen heraus, die durch ihre Kontraste und
Formen bestechen. Und durch ihre Sujets. Da sind Aufnahmen von der „samtenen
Revolution“ Ende 1989. Von Restaurierungsarbeiten in der Synagoge. Von Kindern,
die an Gitterbetten gefesselt sind. Da überläuft es mich kalt. Kodera hat in
den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in einer Psychiatrischen
Heilanstalt fotografieren dürfen: Menschen, denen er bei aller Tragik ihre
Würde erhält. In der Klinik in Dobřany. Da will ja auch ich in diesen Tagen hin.
Aber nicht, um Fotos zu machen, sondern um tragische Geschehnisse aus den
vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu
dokumentieren.
Meine charmanten tschechischen Dolmetscherinnen |
Radovan und ich unterhalten uns mit Hilfe von zwei bildhübschen
Dolmetscherinnen, Veronika Dolívková und Markéta Balíková, Oberschülerinnen am angesehenen
Masaryk-Gymnasium in Pilsen. Und bevor ich das mit Scheinwerfern und Stativen
und Büchern und Fotoapparaten vollgestellte Atelier verlasse, werfe
ich noch einen Blick aus dem Fenster. Auf eine faszinierende Dachlandschaft
vergangener Jahrhunderte, die einem Bild des Südtiroler Malers Karl Plattner
entsprungen sein könnten.
Eigentlich hatte ich beim Hinuntergehen die Stufen, die von Tausenden von
Schritten abgenutzten, ausgetretenen Holzstufen im verwinkelten Treppenhaus, zählen wollen. Aber die Begegnung hatte mich
zu sehr beeindruckt, um mich mit banalem Stufenzählen beschäftigen zu wollen.
Děkuji, Radovane!
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