Immer wieder:
die Vertreibung
Zur Noc literatury, der „Nacht
der Literatur“, hatte Pilsen2015 an signifikanten Orten der Stadt zu mehreren
Lese-Marathons eingeladen. Schriftsteller aus halb Europa – von Norwegen bis
Portugal und von Spanien bis Österreich – lasen aus ihren Werken. Mein Heim war
für einen Abend der Meeting Point am Hauptplatz, wenige Schritte von der
Kathedrale entfernt.
„Als ich noch nicht einmal zwei Jahre alt war“, begann ich aus meinem Buch Böhmen hin und zurück * zu lesen, „wurde einer meiner Onkel, ein deutscher
Geistlicher, von den Nationalsozialisten wegen ‚Abhörens feindlicher Sender‘ zu
dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt …“. Ich auf Deutsch, die Zuhörer mit
der tschechischen Übersetzung in der Hand. „Einen Monat vorher, gleich bei
Kriegsende, hatten wir schon aus der Schule weggehen müssen … 24 Stunden Zeit,
um in ein Nachbarhaus umzuziehen … Und da war schon das Meiste
zurückgeblieben … Töpfe, Pfannen, Löffel, Messer, Gabeln … meine
handbestickten Sommerkleider und meine handgestrickten Winterpullover … die
Nähmaschine im Wohnzimmer und das Holz im Keller … Und zurück blieben auch die
Toten.“
Meine Familie im Jahr 1942 in Radowenz/Radvanice: meine Eltern, meine zwei Brüder, meine Schwester und ich (vorn in der Mitte) |
Ich erzählte dann – mit Hilfe von Tereza Svášková, der immer präsenten
Moderatorin und im Bedarfsfall auch Übersetzerin ins Tschechische – von einer
Wanderung, die ich vor zwei Jahren auf unserer Treckroute vom Juni 1945
unternommen hatte: „Für mich ist diese Reise in die Vergangenheit, dieses
Berühren von Straßen und Wegen, auf denen ich als ‚unerwünscht‘ fortgeschickt
worden bin, eine Rückkehr in ein Böhmen, das meine Heimat ist. Trotz allem.“
Es kamen Fragen, langsam, behutsam, es gab Emotionen, Umarmungen, Tränen. Personen, die
hier vielleicht zum ersten Mal mit dem Heimatverlust und der ewigen
Heimatlosigkeit konfrontiert wurden. Die meisten der Zuhörer wussten – was auch
heute in Tschechien noch nicht selbstverständlich ist – vom odsun, von der Vertreibung der
Sudetendeutschen aus jahrhundertealten Siedlungsgebieten. Und alle gaben zu:
Das Thema sei jahrelang ein Tabu gewesen, sei historisch simplifiziert worden (als
„logische“ und gerechtfertigte Reaktion der Tschechen auf die von den
Nazi-Deutschen begangenen Grausamkeiten), werde erst in den letzten Jahren von
den jüngeren Generationen thematisiert und hinterfragt.
Auch in diesen Stunden der Literaturnacht empfand ich, was mir
während meines Aufenthaltes als Stadtschreiberin in Pilsen zunehmend deutlich wird: dass ich alle
Tschechen als meine Brüder und Schwestern empfinde. Wie vor 100, 150 Jahren, als in den
sudetendeutschen Grenzgebieten, ja in ganz Böhmen nicht als „Tschechen“ oder „Deutsche“ etikettierte
Personen zusammenlebten und miteinander verkehrten, sondern einfach Nachbarn. Nachbarn, die sich über die
trennende Sprache hinaus verstanden.
* Wolftraud de Concini, Böhmen hin
und zurück, Weitra: Verlag Bibliothek der Provinz 2014
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