Montag, 18. Mai 2015

Begegnungen am Rande (2)


Lenka und Milan

Wenn ich allein beim Frühstück sitze, kommen sie, manchmal noch etwas zerzaust, und setzen sich zu mir. Gelegentlich bringt Milan mir auch einen extra zubereiteten Espresso mit. Und dann fangen sie an zu erzählen. „Wissen Sie, dass meine Mutter in der Ukraine geboren ist?“, beginnt Milan, und „In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Tschechen in die ukrainischen Grenzgebiete gerufen worden, hatten dort Land und Haus bekommen“, ergänzt Lenka. So waren tschechische Dörfer entstanden, mit regem kulturellem Leben, Schulen, Theater.

 
Milan Peřka und Lenka Peřková in Rokycany

Milan und Lenka sind die reizenden Inhaber der Pension Le & My in Rokycany, in der ich drei Wochen logiert habe, in einem hübschen Zimmer, von dem ich nur Dächer, Einfamilienhäuser und Gärten sah. So recht eine Schreibstube.

„Nach dem Zweiten Weltkrieg“, erzählen sie weiter, „konnten die Tschechen wieder in die Tschechoslowakische Republik zurück.“ Es wurden Konvois der Rückkehrwilligen organisiert, auch zur Wiederbesiedlung der von den Sudetendeutschen verlassenen Dörfer. „Mein Großvater schlief die ganze Zeit bei einer Kuh und zwei Pferden im Zug, er hatte auch – wie sagt man? – ja, er hatte eine Heugabel bei sich, um sich gegen Diebe zu wehren.“

Vor einigen Jahren hat Milan mit seinem Sohn und der Großmutter eine Reise in die Ukraine gemacht. Und die Mutter kannte sich noch aus: Hier habe der und der gewohnt, dort habe es ein Gasthaus gegeben, da drüben die Schule. Auch ihr Haus stand noch, „meine Mutti redete mit dem Haus“. Aber keine Spur von tschechischen Gräbern auf dem Friedhof. Bis sie im Wald, unter stacheligen Sträuchern und wucherndem Gras, den alten tschechischen Friedhof fanden. Und einen umgestürzten Grabstein mit den Namen ihrer Vorfahren. „Meine Mutter hat in einem Kübel Gras und Wasser mitgenommen, bis in die Tschechei, hat Gras und Wasser dann auf den Friedhof hier gebracht.“ Und Milan, der sich sonst cool gibt, bekommt feuchte Augen.

Wie die Sudetendeutschen, die wieder in ihre jetzt tschechischen Heimatdörfer zurückkehren und nach Wohnhäusern, der Schule, der Kirche und den Gräbern auf dem Friedhof suchen, so fahren Tschechen wieder in ihre heute ukrainischen Heimatdörfer und suchen nach Wohnhäusern, der Schule, der Kirche und den Gräbern auf dem Friedhof. Ähnliche Schicksale. Nur unter anderen Vorzeichen.

Lenka und Milan vor ihrer Pension in Rokycany
Lenka und Milan sprechen beide recht gut Deutsch, dieses sympathisch gefärbte Deutsch der Tschechen, das weich ist wie böhmische Semmelknödel. Und sie waren immer bereit, mir zu helfen. Beim Tierarzt oder beim Automechaniker oder in der Apotheke – was man eben so braucht, wenn man allein in einem Land unterwegs ist, dessen Sprache man nicht gut kann. Immer waren sie bereit – ehrlich gesagt: fast immer. Denn wenn Eishockey oder Fußball gespielt und im Fernsehen übertragen wurde, musste ich bis zum Endpfiff warten, bevor Milan anzusprechen war.

Na shledanou, Lenko a Milane!


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