Lenka und Milan
Wenn ich allein beim Frühstück sitze, kommen sie, manchmal noch etwas
zerzaust, und setzen sich zu mir. Gelegentlich bringt Milan mir auch einen extra
zubereiteten Espresso mit. Und dann fangen sie an zu erzählen. „Wissen Sie,
dass meine Mutter in der Ukraine geboren ist?“, beginnt Milan, und „In der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Tschechen in die ukrainischen
Grenzgebiete gerufen worden, hatten dort Land und Haus bekommen“, ergänzt
Lenka. So waren tschechische Dörfer entstanden, mit regem kulturellem Leben,
Schulen, Theater.
Milan und Lenka sind die reizenden Inhaber der Pension Le & My in Rokycany, in der ich drei Wochen logiert
habe, in einem hübschen Zimmer, von dem ich nur Dächer, Einfamilienhäuser und
Gärten sah. So recht eine Schreibstube.
„Nach dem Zweiten Weltkrieg“, erzählen sie weiter, „konnten die Tschechen
wieder in die Tschechoslowakische Republik zurück.“ Es wurden Konvois der
Rückkehrwilligen organisiert, auch zur Wiederbesiedlung der von den
Sudetendeutschen verlassenen Dörfer. „Mein Großvater schlief die ganze Zeit bei
einer Kuh und zwei Pferden im Zug, er hatte auch – wie sagt man? – ja, er hatte
eine Heugabel bei sich, um sich gegen Diebe zu wehren.“
Vor einigen Jahren hat Milan mit seinem Sohn und der Großmutter eine Reise in
die Ukraine gemacht. Und die Mutter kannte sich noch aus: Hier habe der und der
gewohnt, dort habe es ein Gasthaus gegeben, da drüben die Schule. Auch ihr Haus
stand noch, „meine Mutti redete mit dem Haus“. Aber keine Spur von tschechischen
Gräbern auf dem Friedhof. Bis sie im Wald, unter stacheligen Sträuchern und
wucherndem Gras, den alten tschechischen Friedhof fanden. Und einen
umgestürzten Grabstein mit den Namen ihrer Vorfahren. „Meine Mutter hat in
einem Kübel Gras und Wasser mitgenommen, bis in die Tschechei, hat Gras und
Wasser dann auf den Friedhof hier gebracht.“ Und Milan, der sich sonst cool gibt,
bekommt feuchte Augen.
Wie die Sudetendeutschen, die wieder in ihre jetzt tschechischen
Heimatdörfer zurückkehren und nach Wohnhäusern, der Schule, der Kirche und den
Gräbern auf dem Friedhof suchen, so fahren Tschechen wieder in ihre heute
ukrainischen Heimatdörfer und suchen nach Wohnhäusern, der Schule, der Kirche
und den Gräbern auf dem Friedhof. Ähnliche Schicksale. Nur unter anderen
Vorzeichen.
Lenka und Milan vor ihrer Pension in Rokycany |
Lenka und Milan sprechen beide recht gut Deutsch, dieses sympathisch
gefärbte Deutsch der Tschechen, das weich ist wie böhmische Semmelknödel. Und
sie waren immer bereit, mir zu helfen. Beim Tierarzt oder beim Automechaniker
oder in der Apotheke – was man eben so braucht, wenn man allein in einem Land
unterwegs ist, dessen Sprache man nicht gut kann. Immer waren sie bereit –
ehrlich gesagt: fast immer. Denn wenn Eishockey oder Fußball gespielt und im
Fernsehen übertragen wurde, musste ich bis zum Endpfiff warten, bevor Milan anzusprechen
war.
Na shledanou, Lenko a Milane!
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