Obstbäume als stumme Zeugen
Grenze? Hranice? Die existiert doch nur in den Köpfen der Politiker und auf
den Landkarten. Dieser Meinung ist auch Thomas Englberger. Er war gerade auf
dem Sudetendeutschen Tag in Augsburg, erzählt begeistert von dem neuen,
versöhnungsbereiten Trend, der sich in der Sudetendeutschen Landsmannschaft abzeichnet, und ist auf einen Sprung nach Pilsen herübergekommen. Ich hatte auf meiner
letzten Rückfahrt von Italien her die Reise in Speinshart unterbrochen. Ein
magischer Ort. Anregung für den Geist, Ruhe für die Seele (wie ich sie gerade
in letzter Zeit besonders brauche) und Erholung für den Körper.
Thomas Englberger von der Internationalen Begegnungsstätte im Kloster Speinshart, hier in Pilsen zwischen Kamel-Brunnen und Kathedrale |
Thomas Englberger ist Referent der Internationalen Begegnungsstätte im
Kloster Speinshart in der Oberpfalz, in der Luftlinie nicht einmal 40 Kilometer
von der deutsch-tschechischen Grenze (also doch Grenze?) entfernt. Gemeinsam
mit Pater Lukas Prosch erarbeitet er das Kulturprogramm des Klosters, ein immer
reicheres Programm mit Konzerten, Ausstellungen, Lesungen und Gesprächen, das
den Prämonstratenserkonvent zu einem geistig-kulturellen Mittelpunkt in der
Oberpfalz macht. Kultur auf internationaler Ebene, aber doch mit einem
besonderen Blick auf die bayerisch-böhmische Nachbarschaft. Auch tschechische
Künstler stellen hier aus, auch tschechische Musiker treten hier auf. Und da
das Kloster – wiewohl 1921 von der damals rein deutschen Abtei Tepl/Tepla im
heute tschechischen Westböhmen neu besiedelt – nichts direkt mit der
Vertreibung zu tun hat, kann es auch heikle Themen objektiv angehen und
vielschichtiger behandeln.
Das Prämonstratenserkloster Speinshart in der Oberpfalz, rechts Pater Lukas (Fotos: Archiv Kloster Speinshart) |
Thomas Englberger erzählt begeistert von einer Wanderung vom
Prämonstratenserkloster Speinshart in der deutschen Oberpfalz zum
westböhmischen Prämonstratenserkloster Tepl/Tepla in Tschechien. Hundert
Kilometer durch eine Landschaft, die nicht verrät, ob die Bewohner Deutsch oder
Tschechisch sprechen. Hier wie dort, diesseits wie jenseits (der Grenze!) die
gleichen sanften Hügel, die gleichen Haine und Sträucher und Büsche, die gleichen geduckten Dörfer, dieselben
Baumeister – allen voran die aus Bayern stammenden Dientzenhofer –, die hier
wie drüben prächtige Barockkirchen errichtet haben. Aber: Nur in Böhmen gibt es
diese grenzenlosen, bis an den Horizont reichenden Rapsfelder, die (ein
Überbleibsel der kommunistischen Kollektivwirtschaft) zur Blütezeit im Frühjahr so
fotogene Motive abgeben.
Und nur in Böhmen gibt es verfallene, da entvölkerte
Dörfer. Mit heruntergekommenen Friedhöfen und schiefen, ungepflegten Grabsteinen.
Den Teilnehmern dieser Von-Kloster-zu-Kloster-Wanderung war eins
besonders aufgefallen: dass in vielen ausgesiedelten Dörfern in Böhmen zwar
keine Häuser, ja oft keine Mauern mehr standen, aber doch die Bäume. Die von
den ehemaligen deutschsprachigen Bewohnern gepflanzten Obstbäume. Die Tschechen
als neue Herren mochten Gewalt und Zerstörungswut an Häusern, Kirchen und
Gräbern ausgelassen haben. An den Menschen. Nicht an den Bäumen. Die Obstbäume
als unschuldige, stumme Zeugen von Gewalt und Drama. Und wo auch im Gebiet
westlich von Pilsen Mauern abgetragen und Dörfer von der Landkarte gestrichen
wurden, sind oft sorgsam aneinandergereihte Obstbäume geblieben. „Die Natur hat
ein Gedächtnis“, kommentiert Thomas Englberger. Und dann fährt er von Pilsen
wieder nach Speinshart zurück.
P.S.: Heute habe ich wieder einmal am jüdischen Friedhof in Pilsen Halt
gemacht. Für mich immer eine Emotion. Und die auf einem Grabstein
wiedergegebenen Worte V OSVĚTIMI ZAHYNULI 1944 (IN AUSCHWITZ 1944 ERMORDET), die
Namen der Opfer und die abgebrannten Kerzen davor bringen in ihrer Schlichtheit
die ganze Tragödie des an den Juden begangenen Völkermords zum Ausdruck.
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