Mittwoch, 27. Mai 2015

Bayerisch-böhmische Nachbarschaft


Obstbäume als stumme Zeugen

Grenze? Hranice? Die existiert doch nur in den Köpfen der Politiker und auf den Landkarten. Dieser Meinung ist auch Thomas Englberger. Er war gerade auf dem Sudetendeutschen Tag in Augsburg, erzählt begeistert von dem neuen, versöhnungsbereiten Trend, der sich in der Sudetendeutschen Landsmannschaft abzeichnet, und ist auf einen Sprung nach Pilsen herübergekommen. Ich hatte auf meiner letzten Rückfahrt von Italien her die Reise in Speinshart unterbrochen. Ein magischer Ort. Anregung für den Geist, Ruhe für die Seele (wie ich sie gerade in letzter Zeit besonders brauche) und Erholung für den Körper.

Thomas Englberger von der Internationalen Begegnungsstätte im Kloster Speinshart, hier in Pilsen zwischen Kamel-Brunnen und Kathedrale

Thomas Englberger ist Referent der Internationalen Begegnungsstätte im Kloster Speinshart in der Oberpfalz, in der Luftlinie nicht einmal 40 Kilometer von der deutsch-tschechischen Grenze (also doch Grenze?) entfernt. Gemeinsam mit Pater Lukas Prosch erarbeitet er das Kulturprogramm des Klosters, ein immer reicheres Programm mit Konzerten, Ausstellungen, Lesungen und Gesprächen, das den Prämonstratenserkonvent zu einem geistig-kulturellen Mittelpunkt in der Oberpfalz macht. Kultur auf internationaler Ebene, aber doch mit einem besonderen Blick auf die bayerisch-böhmische Nachbarschaft. Auch tschechische Künstler stellen hier aus, auch tschechische Musiker treten hier auf. Und da das Kloster – wiewohl 1921 von der damals rein deutschen Abtei Tepl/Tepla im heute tschechischen Westböhmen neu besiedelt – nichts direkt mit der Vertreibung zu tun hat, kann es auch heikle Themen objektiv angehen und vielschichtiger behandeln. 

Das Prämonstratenserkloster Speinshart in der Oberpfalz, rechts Pater Lukas
(Fotos: Archiv Kloster Speinshart)


Thomas Englberger erzählt begeistert von einer Wanderung vom Prämonstratenserkloster Speinshart in der deutschen Oberpfalz zum westböhmischen Prämonstratenserkloster Tepl/Tepla in Tschechien. Hundert Kilometer durch eine Landschaft, die nicht verrät, ob die Bewohner Deutsch oder Tschechisch sprechen. Hier wie dort, diesseits wie jenseits (der Grenze!) die gleichen sanften Hügel, die gleichen Haine und Sträucher und Büsche, die gleichen geduckten Dörfer, dieselben Baumeister – allen voran die aus Bayern stammenden Dientzenhofer –, die hier wie drüben prächtige Barockkirchen errichtet haben. Aber: Nur in Böhmen gibt es diese grenzenlosen, bis an den Horizont reichenden Rapsfelder, die (ein Überbleibsel der kommunistischen Kollektivwirtschaft) zur Blütezeit im Frühjahr so fotogene Motive abgeben. 

 
Rapsfelder im Gebiet von Pilsen

Und nur in Böhmen gibt es verfallene, da entvölkerte Dörfer. Mit heruntergekommenen Friedhöfen und schiefen, ungepflegten Grabsteinen.

 
Ein ehemals deutscher Friedhof, hier in Luková

Den Teilnehmern dieser Von-Kloster-zu-Kloster-Wanderung war eins besonders aufgefallen: dass in vielen ausgesiedelten Dörfern in Böhmen zwar keine Häuser, ja oft keine Mauern mehr standen, aber doch die Bäume. Die von den ehemaligen deutschsprachigen Bewohnern gepflanzten Obstbäume. Die Tschechen als neue Herren mochten Gewalt und Zerstörungswut an Häusern, Kirchen und Gräbern ausgelassen haben. An den Menschen. Nicht an den Bäumen. Die Obstbäume als unschuldige, stumme Zeugen von Gewalt und Drama. Und wo auch im Gebiet westlich von Pilsen Mauern abgetragen und Dörfer von der Landkarte gestrichen wurden, sind oft sorgsam aneinandergereihte Obstbäume geblieben. „Die Natur hat ein Gedächtnis“, kommentiert Thomas Englberger. Und dann fährt er von Pilsen wieder nach Speinshart zurück.


P.S.: Heute habe ich wieder einmal am jüdischen Friedhof in Pilsen Halt gemacht. Für mich immer eine Emotion. Und die auf einem Grabstein wiedergegebenen Worte V OSVĚTIMI ZAHYNULI 1944 (IN AUSCHWITZ 1944 ERMORDET), die Namen der Opfer und die abgebrannten Kerzen davor bringen in ihrer Schlichtheit die ganze Tragödie des an den Juden begangenen Völkermords zum Ausdruck.




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