Geste der Versöhnung
Gestern Abend wollte ich gerade einen neuen Post in meinen Blog einstellen
– diesmal etwas zu Gaumen- und Sinnenfreude: über mein Lieblingskaffee hier in
Pilsen und mein Lieblingsgetränk (das nicht das Bier ist – die Pilsner mögen es
mir verzeihen –, sondern der türkische Kaffee). Da erreichte mich eine
Nachricht von Radio Prag (ich möchte allen Böhmen-Interessenten ein Abonnement
der täglichen, auch deutschsprachigen Radio-Prag-Nachrichten aufrichtig ans Herz legen: www.radio.cz),
die mich halb erfreute und halb schockierte. Annette Kraus, die Journalistin
der deutschsprachigen Sendungen von Radio Prag, die mich vor gut zwei Wochen
gerade in Pilsen interviewt hatte, berichtet darin von zwei Fakten, die sich
auf die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945 beziehen (ich bin in meinen Posts
schon mehrmals auf dieses Thema eingegangen).
Erfreulich die erste Notiz, die sofort von vielen deutschsprachigen Medien
aufgegriffen wurde: Der Brünner Stadtrat unter Vorsitz von Oberbürgermeister
Petr Vokřál hat eine „Erklärung der Versöhnung und der Zukunft“ gebilligt, in
der die Zwangsaussiedlung der ehemaligen deutschen Mitbürger nach dem Zweiten
Weltkrieg bedauert wird. Diese Deklaration bezieht sich besonders auf den
„Brünner Todesmarsch“ Ende Mai 1945, bei dem (ich zitiere aus der
Radio-Prag-Nachricht) „tausende Menschen auf Grundlage des
Kollektivschuldprinzips und wegen ihrer Sprache genötigt wurden, zu Fuß ihre
Stadt zu verlassen“. Rund 2.000 von den insgesamt 20.000 vertriebenen Personen
überlebten diesen mehrtägigen Marsch nicht.
Schockierend, ja zumindest überraschend war für mich, die immer positiv und
versöhnerisch Denkende, die zweite Nachricht: Einer kürzlich in der Tschechischen Republik durchgeführten Umfrage nach sehen 70 Prozent der Tschechen
die Vertreibung der Deutschen als „unvermeidlich“ an, 61 Prozent sogar als
„gerechtfertigt“. Die Gewalttätigkeiten während der Zwangsaussiedlung werden
von 78 Prozent der Befragten verurteilt, aber zwei Drittel halten eine
Entschuldigung für die damaligen Geschehnisse „nicht für notwendig“. Für die neue Generation allerdings sei die Vertreibung nicht akzeptabel.
Ein Dank also dem Brünner Oberbürgermeister Petr Vokřál – in der Hoffnung, dass ihm diese seine Geste der Versöhnung bei den nächsten Wahlen keine Stimmenverluste einbringen möge – was vor gut zwei Jahren dagegen bei den tschechischen Präsidentschaftswahlen geschah: Karel Schwarzenberg, wohl der angesehenste Kandidat, verlor (auch) wegen seiner Erklärungen zu Aussöhnung und Verständigung die Stichwahlen. Als Sieger ging Miloš Zeman hervor, der Schwarzenberg gerade wegen seiner Versöhnungsbereitschaft heftig angegriffen hatte.
E-Mail: cr[at]radio.cz
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