Dienstag, 9. Juni 2015

Auf Entdeckungsfahrt um Pilsen


Eine westböhmische Kleinstadt: Rokycany

Eigentlich wollte ich nur ein Gespräch mit dem Bürgermeister von Rokycany führen. Und ich hätte mir nicht träumen lassen, dass mir eine große Überraschung und Emotion bevorstand.

Rokycany, meine derzeitige Bleibe (was ich wohl schon erzählt habe), ist eine westböhmische Kleinstadt im unmittelbaren Umkreis von Pilsen. Von Kulturhauptstadt-Atmosphäre ist hier wenig zu spüren, der Ort lebt sein eigenes, geruhsames Leben. Eben das einer kleinen tschechischen Provinzstadt, die abseits der großen Touristenströme liegt. Ein Ort so richtig zum Sich-Wohl-Fühlen, zum Heimisch-Werden.

Das Städtchen hat an die 14.000 Einwohner, mehrere Industriebetriebe, vier Kirchen – eine römisch-katholische, eine evangelische der Böhmischen Brüder, eine hussitische und eine orthodoxe –,

Die katholische Kirche Hl. Maria im Schnee wird zum Sonntagsgottesdienst gut besucht.
 
zwei Museen, einige Hotels und Pensionen, eine Pizzeria,



ein Kebab-Lokal,

ein „Café Wien“,


einige Restaurants,
Mein Lieblingslokal „U Čápa“

mehrere Supermärkte internationaler Ketten,

auf dem (wie immer in Böhmen) großen Hauptplatz eine (wie immer in Böhmen) barocke, statuenüberladene Mariensäule vor dem eleganten, Barock imitierenden Rathaus aus dem beginnenden 19. Jahrhundert.

Die barocke Mariensäule auf dem Hauptplatz, im Hintergrund rechts das Rathaus

Hier treffe ich mich mit dem pan starosta Václav Kočí, dem freundlichen und jovialen Bürgermeister, der in der Politk sicher sein Bestes gibt. Rokycany hat – und das war, aufrichtig gesagt, auch einer der Gründe für dieses Treffen – einen im Vergleich zum tschechischen Landesdurchschnitt (rund 3%) relativ hohen Bevölkerungsanteil an Roma (an die 7-8 %). So kommt dann das Gespräch zwangsläufig auch auf diese Gruppe. Ich erzähle ihm, dass meine Unterkunft nicht weit von anonymen Roma-Wohnblöcken entfernt liegt, dass ich bei Spaziergängen mit meinem Hund dort niemals belästigt worden bin, dass ein paar kleine Mädchen manchmal anmutig vor den Hauseingängen herumtänzeln. Dass die Leute mehr zusammenstehen und vielleicht etwas lauter miteinander reden als in den Einfamilienhäusern ringsum. Hier in Rokycany dürfen sie das. Im Gegenteil zum ebenfalls in Westböhmen gelegenen Städtchen Rotava. Dort wurden die Sitzbänke von Straßen und Plätzen entfernt, damit sich niemand (und diese „Niemand“ sind natürlich die Roma) setzen kann, ja sogar das (Herum-)Stehen im Freien wurde den Bewohnern (sprich: Roma) verboten. Da sind Rokycany und sein starosta glücklicherweise toleranter.

Zum Abschluss unseres Gesprächs begleitet mich der Bürgermeister in den Sitzungssaal. An der Stirnwand ein Riesengemälde. 4,30 mal 2,30 Meter groß, wie ich dann nachlesen sollte. Und da die Überraschung: Von Alfons Mucha, meint pan Kočí wie beiläufig. Von Alfons Mucha, meinem verehrten tschechischen Jugendstilkünstler Alfons Mucha? Ja. Es war 1933 von der Stadt bei Mucha in Auftrag gegeben worden: „Jan Rokycana auf dem Konzil von Basel“. 500 Jahre nach dem Auftritt des umstrittenen hussitischen Erzbischofs auf dem Konzil. 

Václav Kočí, Bürgermeister von Rokycany, und ich vor Alfons Muchas Riesengemälde

Beim Abschied werde ich in den Stadtannalen verewigt und bekomme ein Buch über Rokycany geschenkt. Vieles steht über die aus der Stadt stammenden Persönlichkeiten drin: über den mittelalterlichen Jan Rokycana natürlich, aber auch über die heutige Roma-Sängerin Věra Bílá, die von Welttourneen Unsummen Geld heimbrachte, heute aber in ihrem Geburtsort in einfachen, ärmlichen Verhältnissen lebt. Nichts ist über die hoch begabte, jung verstorbene Malerin Paula Deppe zu finden, die 1886 als Tochter des deutschen Leiters einer Lederfabrik in Rokycany geboren war und deren Familie erst am Ende des Ersten Weltkriegs nach Deutschland zog.

Paula Deppe (1886–1922), Selbstporträt

Am Tag darauf fahre ich – es ist ein heißer Spätfrühlingstag und außerdem mein Geburtstag – nach Zbiroh hinüber. Und hier die nächste Alfons-Mucha-Überraschung: Auf dem Renaissanceschloss über dem Ort hat dieser Künstler 18 Jahre lang gelebt, von 1910 bis 1928, hat hier das „Slawische Epos“ geschaffen, einen Gemäldezyklus aus 20 großformatigen Bildern, zur Verherrlichung der slawischen, besonders der tschechischen Geschichte. Schließlich war er ein Tscheche.

Schloss Zbiroh, Teilansicht
Plakat zur Ausstellung über Alfons Mucha als Freimaurer

Im Schlossrestaurant lasse ich mir Svíčková na smetaně s karlovarským knedlíkem schmecken: die Leibspeise der Tschechen, diesmal aber mit Karlsbader Knödeln. Die sich von den „normalen“ böhmischen Hefeknödeln durch den Zusatz von altbackenem, in Stücke geschnittenem Brot unterscheiden. Und mir, aufrichtig gesagt, auch besser schmecken.

So, das war jetzt ein langer Weg, von Rokycanys Bürgermeister über Alfons Mucha bis hin zum Lendenbraten. Aber ich wollte einfach nur erzählen, was es in und um Pilsen auf Schritt und Tritt zu entdecken gibt. Wer sich hier langweilt, ist selber schuld. 

Ein hübsches Schlossfräulein auf Zbiroh




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