Eine westböhmische Kleinstadt: Rokycany
Eigentlich wollte ich nur ein Gespräch mit dem Bürgermeister von Rokycany
führen. Und ich hätte mir nicht träumen lassen, dass mir eine große
Überraschung und Emotion bevorstand.
Rokycany, meine derzeitige Bleibe (was ich wohl schon erzählt habe), ist
eine westböhmische Kleinstadt im unmittelbaren Umkreis von Pilsen. Von
Kulturhauptstadt-Atmosphäre ist hier wenig zu spüren, der Ort lebt sein
eigenes, geruhsames Leben. Eben das einer kleinen tschechischen Provinzstadt,
die abseits der großen Touristenströme liegt. Ein Ort so richtig zum
Sich-Wohl-Fühlen, zum Heimisch-Werden.
Das Städtchen hat an die 14.000 Einwohner, mehrere Industriebetriebe, vier
Kirchen – eine römisch-katholische, eine evangelische der Böhmischen Brüder,
eine hussitische und eine orthodoxe –,
Die katholische Kirche Hl. Maria im Schnee wird zum Sonntagsgottesdienst gut besucht. |
zwei Museen, einige Hotels und Pensionen, eine Pizzeria,
ein Kebab-Lokal,
ein „Café Wien“,
einige Restaurants,
Mein Lieblingslokal „U Čápa“ |
mehrere Supermärkte internationaler Ketten,
auf dem (wie immer in Böhmen) großen Hauptplatz eine (wie immer in Böhmen)
barocke, statuenüberladene Mariensäule vor dem eleganten, Barock imitierenden Rathaus aus dem beginnenden 19. Jahrhundert.
Die barocke Mariensäule auf dem Hauptplatz, im Hintergrund rechts das Rathaus |
Hier treffe ich mich mit dem pan
starosta Václav Kočí, dem freundlichen und jovialen Bürgermeister, der in
der Politk sicher sein Bestes gibt. Rokycany hat – und das war, aufrichtig
gesagt, auch einer der Gründe für dieses Treffen – einen im Vergleich zum tschechischen
Landesdurchschnitt (rund 3%) relativ hohen Bevölkerungsanteil an Roma (an die
7-8 %). So kommt dann das Gespräch zwangsläufig auch auf diese Gruppe. Ich erzähle
ihm, dass meine Unterkunft nicht weit von anonymen Roma-Wohnblöcken entfernt
liegt, dass ich bei Spaziergängen mit meinem Hund dort niemals belästigt worden
bin, dass ein paar kleine Mädchen manchmal anmutig vor den Hauseingängen
herumtänzeln. Dass die Leute mehr zusammenstehen und vielleicht etwas lauter
miteinander reden als in den Einfamilienhäusern ringsum. Hier in Rokycany
dürfen sie das. Im Gegenteil zum ebenfalls in Westböhmen gelegenen Städtchen Rotava.
Dort wurden die Sitzbänke von Straßen und Plätzen entfernt, damit sich niemand
(und diese „Niemand“ sind natürlich die Roma) setzen kann, ja sogar das
(Herum-)Stehen im Freien wurde den Bewohnern (sprich: Roma) verboten. Da sind
Rokycany und sein starosta
glücklicherweise toleranter.
Zum Abschluss unseres Gesprächs begleitet mich der Bürgermeister in den
Sitzungssaal. An der Stirnwand ein Riesengemälde. 4,30 mal 2,30 Meter groß, wie ich dann nachlesen sollte. Und da
die Überraschung: Von Alfons Mucha, meint pan
Kočí wie beiläufig. Von Alfons Mucha, meinem verehrten tschechischen Jugendstilkünstler
Alfons Mucha? Ja. Es war 1933 von der Stadt bei Mucha in Auftrag gegeben
worden: „Jan Rokycana auf dem Konzil von Basel“. 500 Jahre nach dem Auftritt
des umstrittenen hussitischen Erzbischofs auf dem Konzil.
Václav Kočí, Bürgermeister von Rokycany, und ich vor Alfons Muchas Riesengemälde |
Beim Abschied werde ich in den Stadtannalen verewigt und bekomme ein Buch
über Rokycany geschenkt. Vieles steht über die aus der Stadt stammenden
Persönlichkeiten drin: über den mittelalterlichen Jan Rokycana natürlich, aber
auch über die heutige Roma-Sängerin Věra Bílá, die von Welttourneen Unsummen
Geld heimbrachte, heute aber in ihrem Geburtsort in einfachen, ärmlichen
Verhältnissen lebt. Nichts ist über die hoch begabte, jung verstorbene Malerin Paula Deppe zu finden, die
1886 als Tochter des deutschen Leiters einer Lederfabrik in Rokycany geboren war
und deren Familie erst am Ende des Ersten Weltkriegs nach Deutschland zog.
Paula Deppe (1886–1922), Selbstporträt |
Am Tag darauf fahre ich – es ist ein heißer Spätfrühlingstag und außerdem
mein Geburtstag – nach Zbiroh hinüber. Und hier die nächste Alfons-Mucha-Überraschung:
Auf dem Renaissanceschloss über dem Ort hat dieser Künstler 18 Jahre lang
gelebt, von 1910 bis 1928, hat hier das „Slawische Epos“ geschaffen, einen Gemäldezyklus
aus 20 großformatigen Bildern, zur Verherrlichung der slawischen, besonders der tschechischen Geschichte. Schließlich war er ein Tscheche.
Schloss Zbiroh, Teilansicht |
Plakat zur Ausstellung über Alfons Mucha als Freimaurer |
Im Schlossrestaurant lasse ich mir Svíčková
na smetaně s karlovarským knedlíkem schmecken: die Leibspeise der
Tschechen, diesmal aber mit Karlsbader Knödeln. Die sich von den „normalen“
böhmischen Hefeknödeln durch den Zusatz von altbackenem, in Stücke
geschnittenem Brot unterscheiden. Und mir, aufrichtig gesagt, auch besser
schmecken.
So, das war jetzt ein langer Weg, von Rokycanys Bürgermeister über Alfons
Mucha bis hin zum Lendenbraten. Aber ich wollte einfach nur erzählen, was es in
und um Pilsen auf Schritt und Tritt zu entdecken gibt. Wer sich hier langweilt,
ist selber schuld.
Ein hübsches Schlossfräulein auf Zbiroh |
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