Vom Kindergarten zu Literatur und Architektur
„Ulice Boženy Němcové“ ist der rechte Name für eine Straße, in der ein
Kindergarten liegt. Denn Božena Němcová war eine im Ausland kaum bekannte, in
Tschechien äußerst populäre, bis heute hoch verehrte Schriftstellerin
(1820–1862), deren 1855 erschienener Roman „Babička“ (Die Großmutter) immer
wieder Neuauflagen erlebt. Ihre ersten literarischen Erfolge hatte sie mit dem
Erzählen von Märchen und Geschichten. Und Märchen und Geschichten
werden heute im „Junikorn“ erzählt, dem ersten tschechisch-deutschen
Kindergarten in Pilsen.
Božena Němcová auf dem tschechischen 500-Kronen-Schein |
Eine weiß-gelbe, in einen schönen Garten eingebettete elegante Villa aus
den dreißiger Jahren in Lochotín, dem nördlichen Villenvorort von Pilsen.
Ringsum Vogelgezwitscher, Sonnenschein und am Zugangsweg abgestellte Dreiräder.
Von so einem Kindergarten träumen alle Eltern.
Diese elegante Villa ist Sitz des tschechisch-deutschen Kindergartens „Junikorn“. |
Hier hat „Junikorn“ seinen Sitz, ein vor zwei Jahren gegründeter Verein.
Der Name hat nichts – wie man im ersten Moment glauben möchte – mit im Juni
reifenden Korn zu tun, sondern geht auf das englische unicorn zurück, das einhornige Fabeltier. Seit Herbst 2014 treffen
sich hier die tschechischsprachigen Kinder Martin, Adam, Tobík, Eliška, Ema,
Tomáš und die deutschsprachigen Felix und Iker. Und sie sprechen Tschechisch
und Deutsch. Was ihnen, da eine tschechische und eine deutsche Lehrerin immer
gemeinsam in der Klasse sind, nicht schwer fällt.
Jana Konečná mit zwei von „ihren“ Kindern |
Alena Vlachová, die Vorsitzende des Vereins, war vergeblich auf der Suche
nach einem gemischtsprachigen Kindergarten für die eigenen Kinder gewesen. So
stellte sie – wie Jana Konečná, die stellvertretende Vorsitzende, erzählt –
selbst diesen tschechisch-deutschen Kindergarten auf die Beine. Mit Erfolg. Und
zur Freude der gemischtsprachigen Familien in Pilsen.
Zu meiner Freude liegt gleich schräg gegenüber von „Junikorn“, an der ansteigenden,
nach Karlsbad führenden Straße Karlovarská třída, eine Villa, die mit ihrer
originellen Struktur nicht zu übersehen ist. Karel Kestřánek, ein
einflussreiches und sicher auch wohlhabendes Vorstandsmitglied der Pilsner Brauerei,
hatte sie sich kurz vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von František Krásný (1865–1947) erbauen lassen. Der aus
Pilsen gebürtige, aber – was man merkt – in Wien geschulte Architekt schuf hier
„ein Pionierprojekt im weiteren Umfeld der böhmischen Jugendstilarchitektur“,
wie im eben erschienenen Kunstführer „Pilsen/Plzeň“ von František Frýda und Jan Mergl* zu lesen ist.
Die von František Krásný entworfene Jugendstilvilla für Karel Kestřánek |
Aber um noch einmal auf die anfangs erwähnte tschechische Schriftstellerin Božena Němcová
zurückzukommen. Vor einigen Tagen habe ich auf einer meiner Überlandfahrten in Švihov südlich von
Pilsen Halt gemacht. Und Tanja Krombach, die unermüdliche Lektorin des
Deutschen Kulturforums östliches Europa, machte mich darauf aufmerksam, dass
diese spätgotische, absolut sehenswerte Wasserburg eine der Kulissen des 1973 gedrehten, tschechisch-DDR-deutschen
Märchenkultfilms „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ („Tři oříšky pro Popelku“) war, eines vom
tschechischen Regisseur Václav Vorlíček geschaffenen Weihnachtsklassikers.
An der Wasserburg Švihov |
* František Frýda/Jan Mergl: Pilsen/Plzeň. Ein kunstgeschichtlicher Rundgang durch die westböhmische Metropole, Regensburg: Schnell + Steiner / Deutsches Kulturforum östliches Europa 2015
www.hradsvihov.cz
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen