Freitag, 12. Juni 2015

Stadtschreiber gestern – Stadtschreiberin heute


Johannes von Saaz und der „Ackermann aus Böhmen“

Die Ruine der Nikolauskirche aus dem 17. Jahrhundert in Šitboř/Schüttwa, dem wahrscheinlichen Geburtsort des Dichters Johannes von Saaz

Da bin ich ja als Stadtschreiberin in allerbester Gesellschaft. Auch Johannes von Saaz war Stadtschreiber. Eben im nordböhmischen Saaz, das heute Žatec heißt, zur Freude der (nicht nur) böhmischen Biertrinker viel Hopfen anbaut und gerade plant, ein Museum zum deutsch-tschechisch-jüdischen Zusammenleben nach ihrem illustren Bürger Johannes von Saaz zu benennen.

Stadtschreiber war er allerdings schon im 14./15. Jahrhundert. Er wurde auch nicht mit einem Stipendium honoriert wie ich, sondern mit Hühnern, Eiern, Ferkeln, Gänsen und Käse (was in Krisenzeiten wohl allen Stadtschreibern gelegen käme), durfte Wein, Bier und Met ausschenken und den Fleischhauerzins erheben. Und das alles brachte ihm immerhin soviel ein, dass er in Saaz und später in Prag ein Haus erwerben konnte. 
Was diese Stadtschreiber-Einkünfte des Mittelalters mit Pilsen zu tun haben? Der Dichter und Notar Johannes, von dem hier die Rede ist, war nicht nur als Johannes von Saaz bekannt, sondern ist auch als Johannes vonTepl in die Geschichte eingegangen. Und als Johannes von Schüttwa. Und Schüttwa heißt heute Šitboř, hat an die 70 Einwohner und liegt im Plzeňský kraj, in der Region Pilsen, im Südwesten der heutigen Kulturhauptstadt und in der Luftlinie nur ein Dutzend Kilometer von der tschechisch-deutschen Grenze entfernt.

Ein Nebengebäude des Prämonstratenserstiftes Tepl/Teplá

Wahrscheinlich war Johannes um das Jahr 1350 hier in Schüttwa geboren, vielleicht als Johannes, Sohn des Henslin, oder als Johannes Henslini. Wer wird das heute schon noch nachweisen können. Es muss aber eine recht einträgliche Ortschaft gewesen sein; denn Adelige und Klöster der Umgebung machten sie sich streitig. Johannes dürfte dann die Lateinschule des Stifts Tepl, des heutigen Prämonstratenserklosters Teplá, besucht haben (daher sein zweiter Name Johannes von Tepl). Ab 1383 wird er als Stadtschreiber in Saaz/Žatec bezeugt, wo er eben all die oben angeführten Privilegien genoss, von denen heutige StadtschreiberInnen nur träumen können. 

Miniatur aus einer Handschrift der Dichtung „Der Ackermann aus Böhmen“
In Saaz schrieb er um das Jahr 1400 die Dichtung, die ihm bis heute einen Platz in der Literaturgeschichte sichert: den „Ackermann aus Böhmen“. In 34 Kapiteln hadert ein Ackermann mit dem Tod, der ihm seine junge Frau genommen hat. Mit Klagen und Anklagen gelingt dem Johannes von Saaz, von Tepl und besonders von Schüttwa hier eines der bedeutendsten Werke der spätmittelalterlichen deutschen Literatur.

Das Dorf Schüttwa wird heute nur an Wochenenden und im Sommer lebendig, die 300 Einwohner der Vor-Vertreibungszeit sind auf etwa 70 gesunken. Auf eine Neubelebung wartet auch noch die nahe, ebenfalls verlassene Ortschaft Pivoň. Eine touristische Attraktion könnte hier das mittelalterliche, ehemalige Augustinerkloster werden, das mit spätgotischen, allerdings recht lädierten Fresken aufwarten kann. Aufwarten könnte. Zur Zeit ist die baufällige Anlage eingezäunt und abgeriegelt. Bleibt nur zu wünschen, dass das Konzert, das im Rahmen der großartig ersonnenen Veranstaltungsreihe „9 týdnů baroka/Neun Wochen Barock“ hier im Kloster stattfinden soll, die Öffentlichkeit auf dieses kulturelle und kunsthistorische Highlight aufmerksam macht und somit Geldgeber auf den Plan bringt. „Naděje pro Pivoň“ ist der vielsagende Titel des Konzerts Anfang August: „Hoffnung für Pivoň“.



Die baufällige Kirche des ehemaligen Augustinerklosters in Pivoň



Der Zugang zum ehemaligen Augustinerkloster ist verriegelt.
 
Ein Flügel des Klosers in Pivoň


Und weil wir schon bei der Musik sind: Derzeit wird in Pilsen ein Event organisiert, das vielleicht größere Aufmerksamkeit verdienen würde. „Pět řek/Fünf Flüsse“ ist der Titel einer sinfonischen Dichtung, in der sich fünf Pilsner Komponisten musikalisch mit den fünf Pilsner Flüssen – Mže, Radbuza, Úhlava, Úslava und Berounka – und ihrer Atmosphäre auseinandersetzen. Uraufführung dieses Werks ist am 15. Oktober in der Großen Synagoge in Pilsen, mit einem Jugendorchester, dem Musiker aus mehreren Nationen angehören, drei Tage später folgt die Zweitaufführung in der Jízdarná, der architektonisch originellen, neuromanischen Reithalle aus der Mitte des 19. Jahrhunderts im winzigen Dorf Světce u Tachova/Heiligen bei Tachau. 

Tomáš Karpíšek und Jiří Vyšata, zwei der jungen Komponisten der Fünf-Flüsse-Sinfonie

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