Wiedersehen mit Milan Novák
Gestern hat mich Milan Novák besucht, der Ko-Autor meines Buchs „Böhmen hin
und zurück“. Er hatte Namenstag und war mit seiner Frau von Kosmonosy zu mir
nach Rokycany gekommen. Was das mit Pilsen zu tun hat? Mit Pilsen direkt eigentlich
nicht, aber mit meiner Arbeit als Stadtschreiberin in Pilsen schon.
So will ich heute, statt Geschichte und Geschichten zu erzählen, einmal
etwas in die Vorgeschichte gehen. In die Vorgeschichte meines Pilsner Aufenthalts.
Vor vier Jahren hatte ich bei Fotoarbeiten zu einer Ausstellung über den
österreichischen Maler und Grafiker Rudolf Kalvach (1883–1932) in Kosmonosy
nordöstlich von Prag Milan Novák kennen gelernt. Den Neurologen Novák in der
Psychiatrischen Klinik in Kosmonosy. Glücklicherweise hatte ich ihn nicht als
Arzt gebraucht, aber er unterstützte mich bei meiner Fotoarbeit als immer gegenwärtiger
Helfer und profunder historischer Berater.
Einige der Fotografien, die ich in Kosmonosy gemacht hatte, wurden dann im
Jahr 2012 bei der ersten umfassenden Rudolf-Kalvach-Ausstellung im Leopold
Museum in Wien als Gigantografien gezeigt. Und Milan Novák setzte seine Recherchen über Rudolf Kalvach fort: Im Herbst 2012 fand in Kosmonosy die Ausstellung „Rudolf Kalvach. Kunst, Leben, Krankheit. Wien, Triest, Kosmonosy“ statt, ein Teil dieser Ausstellung wurde im Sommer 2014 in Rychnov nad Kněžnou/Reichenau an der Knieschna, dem Geburtsort von Kalvachs Vater, gezeigt, und 2013 erschien der von Milan Novák und Václav Petřiček veröffentlichte Katalog „Rudolf Kalvach – život, dílo a nemoc“ (als CD-ROM auch auf Deutsch „Rudolf Kalvach – Leben, Werk und Krankheit“). So haben meine Fotoarbeiten in Kosmonosy mehrere „Kinder“ gezeugt: umfassendere Rudolf-Kalvach-Recherchen, mein Böhmen-Buch und meine Stelle als Stadtschreiberin in Pilsen.
Eines meiner Schwarzweißfotos aus der Nervenheilanstalt in Kosmonosy |
Bei den halb auf Deutsch und halb auf Englisch geführten Gesprächen waren Milan
Novák („Meine Mutter hat mir immer gesagt: Lerne Deutsch!“) und ich dann auf
meine Familiengeschichte gekommen. Und auf seine. Es gab sonderbare Übereinstimmungen.
Meine anfängliche Idee, ein Buch über Rudolf Kalvach zu schreiben – eine Biografie
in Romanform –, kam dann in die Schublade. Weil ich lieber mein Leben als in
Böhmen Geborene unter die Lupe nehmen wollte.
So entstand mein Buch „Böhmen hin und zurück“, mit mehreren, signifikanten
Beiträgen von Milan Novák. Das auf Deutsch und Italienisch verfasste Buch
erschien im Winter 2013. Bei den Bozner Filmtagen im Frühjahr 2014 wurde der
Film „Böhmische Dörfer“ gezeigt. Jana Cisar, die tschechisch-deutsche
Produzentin, und Peter Zach, der österreichisch-deutsche (gibt es das?)
Regisseur, animierten mich: Es gäbe doch da ... und es würde doch immer ... und
ich sollte doch mal versuchen, mich um die jährlich vom Deutschen Kulturforum
östliches Europa ausgeschriebene Stadtschreiberstelle zu bewerben. So
arbeitete ich ein Projekt aus und schickte es gerade noch rechtzeitig nach
Potsdam. In der Anlage ging das von mir und Milan Novák verfasste Buch mit.
Dann, einige Wochen später, der Anruf von Dr. Harald Roth, dem Direktor des Kulturforums (ich saß
gerade in meinem Lieblingscafé in Pergine Valsugana). Und jetzt bin ich hier,
stolze Stadtschreiberin in Pilsen.
Aber ohne Rudolf Kalvach und seine tragische Lebensgeschichte
Rudolf Kalvach, österreichischer Maler und Grafiker, starb in der tschechoslowakischen Nervenheilanstalt Kosmonosy. |
ohne Milan Novák
ohne Jana Cisar und Peter Zach (die ich schon in einem meiner vorausgegangenen Einträge über das Pilsner Filmfestival Finale vorgestellt habe) wäre ich niemals auf die Idee gekommen, mich an dem Stipendium-Wettbewerb
zu beteiligen, und niemals hätte ich gedacht, dass auch Träume Wirklichkeit
werden können. Und mein Traum war: einige Monate in Tschechien zu verbringen und meine Beziehung zu meinem Geburtsland und dessen Bewohnern auszuloten.
So, das wäre jetzt meine Stadtschreiberin-Vorgeschichte. Aber es vergeht
keine Woche, in der ich mich nicht an Milan Novák wenden würde. Nicht an den
Neurologen Novák, sondern an den Historiker, der auch auf meine schwierigsten
und heikelsten Fragen eine Antwort findet. Eine immer sehr schnelle Antwort.
Und wir fragen uns, ob und wann wir das nächste Buch zusammen schreiben.
Meine Nothelfer
Heute führe ich eine neue Mini-Rubrik ein: die meiner Nothelfer und
Schutzengel (dabei fällt mir gerade auf, dass das Wort „Engel“ keine weibliche Form hat). Mir aber standen bis jetzt besonders weibliche Schutzengel zur Seite.
So möchte ich sie nach und nach vorstellen.
Von Šárka Krtková war schon in einem meiner vorausgegangenen Posts die Rede
(„Spaziergang an der Radbuza“). Eine andere Šarka kam mir bei einem kürzlichen
Live-Interview im Tschechischen Radio Pilsen zu Hilfe. Als perfekte
Simultandolmetscherin.
Šárka Kuthanová |
Šárka Kuthanová, 31 Jahre alt, wurde in Pilsen geboren, wo sie heute wieder
lebt. Während der Gymnasialzeit verbrachte sie ein Schuljahr als Gastschülerin bei
einer deutschen Familie in Weiden in der Oberpfalz. Solche Austauschprogramme
bestehen – zum Beispiel – zwischen dem Masaryk-Gymnasium in Pilsen und dem Augustinus-Gymnasium
in Weiden. „Ein hübsches Städtchen“, kommentiert sie, „es war eine schöne
Zeit“. Nach dem Abitur studierte sie Germanistik und Psychologie in Pilsen,
schloss ihr fünfjähriges Studium mit der Magisterarbeit
„Entwicklungstendenzen in der Morphologie der deutschen Gegenwartssprache“ ab
und ist heute in Pilsen als freie Dolmetscherin und Übersetzerin tätig.
Nach dem Rundfunkinterview gehen wir in ein nahes Café („Da gibt es sehr
guten Kuchen!“). Das Gespräch kommt – fast zwangsläufig
in Tschechien zwischen einer Tschechin und einer Deutschen – auf die
Vertreibung. Auch auf die ehemals in heute tschechischen Dörfern lebenden
Deutschen, die manchmal in „ihre“ alten Häuser hineinschauen, ja sich in ihrer
jetzt von Neusiedlern bewohnten Wohnung umschauen möchten. Das geht manchmal gut, erzählt Šárka. Aber wenn ganze Busse aus Deutschland auf
Alte-Häuser-Sightseeingtour anreisen, dann kommen ihnen die jetzigen
Einheimischen nicht immer freundlich entgegen. Nach dem Motto: „Ich wohne in
meinem Haus und mache die Tür zu!“
Und ehrlich gesagt: Wer möchte sich schon seine Wohnung immer wieder von
Fremden anschauen lassen?
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