Samstag, 20. Juni 2015

Stadtschreiberin-Vorgeschichte




Wiedersehen mit Milan Novák

Gestern hat mich Milan Novák besucht, der Ko-Autor meines Buchs „Böhmen hin und zurück“. Er hatte Namenstag und war mit seiner Frau von Kosmonosy zu mir nach Rokycany gekommen. Was das mit Pilsen zu tun hat? Mit Pilsen direkt eigentlich nicht, aber mit meiner Arbeit als Stadtschreiberin in Pilsen schon.

So will ich heute, statt Geschichte und Geschichten zu erzählen, einmal etwas in die Vorgeschichte gehen. In die Vorgeschichte meines Pilsner Aufenthalts.

Vor vier Jahren hatte ich bei Fotoarbeiten zu einer Ausstellung über den österreichischen Maler und Grafiker Rudolf Kalvach (1883–1932) in Kosmonosy nordöstlich von Prag Milan Novák kennen gelernt. Den Neurologen Novák in der Psychiatrischen Klinik in Kosmonosy. Glücklicherweise hatte ich ihn nicht als Arzt gebraucht, aber er unterstützte mich bei meiner Fotoarbeit als immer gegenwärtiger Helfer und profunder historischer Berater.  

Einige der Fotografien, die ich in Kosmonosy gemacht hatte, wurden dann im Jahr 2012 bei der ersten umfassenden Rudolf-Kalvach-Ausstellung im Leopold Museum in Wien als Gigantografien gezeigt. Und Milan Novák setzte seine Recherchen über Rudolf Kalvach fort: Im Herbst 2012 fand in Kosmonosy die Ausstellung „Rudolf Kalvach. Kunst, Leben, Krankheit. Wien, Triest, Kosmonosy“ statt, ein Teil dieser Ausstellung wurde im Sommer 2014 in Rychnov nad Kněžnou/Reichenau an der Knieschna, dem Geburtsort von Kalvachs Vater, gezeigt, und 2013 erschien der von Milan Novák und Václav Petřiček veröffentlichte Katalog „Rudolf Kalvach – život, dílo a nemoc“ (als CD-ROM auch auf Deutsch „Rudolf Kalvach – Leben, Werk und Krankheit“). So haben meine Fotoarbeiten in Kosmonosy mehrere „Kinder“ gezeugt: umfassendere Rudolf-Kalvach-Recherchen, mein Böhmen-Buch und meine Stelle als Stadtschreiberin in Pilsen.

Eines meiner Schwarzweißfotos aus der Nervenheilanstalt in Kosmonosy

Bei den halb auf Deutsch und halb auf Englisch geführten Gesprächen waren Milan Novák („Meine Mutter hat mir immer gesagt: Lerne Deutsch!“) und ich dann auf meine Familiengeschichte gekommen. Und auf seine. Es gab sonderbare Übereinstimmungen. Meine anfängliche Idee, ein Buch über Rudolf Kalvach zu schreiben – eine Biografie in Romanform –, kam dann in die Schublade. Weil ich lieber mein Leben als in Böhmen Geborene unter die Lupe nehmen wollte.

So entstand mein Buch „Böhmen hin und zurück“, mit mehreren, signifikanten Beiträgen von Milan Novák. Das auf Deutsch und Italienisch verfasste Buch erschien im Winter 2013. Bei den Bozner Filmtagen im Frühjahr 2014 wurde der Film „Böhmische Dörfer“ gezeigt. Jana Cisar, die tschechisch-deutsche Produzentin, und Peter Zach, der österreichisch-deutsche (gibt es das?) Regisseur, animierten mich: Es gäbe doch da ... und es würde doch immer ... und ich sollte doch mal versuchen, mich um die jährlich vom Deutschen Kulturforum östliches Europa ausgeschriebene Stadtschreiberstelle zu bewerben. So arbeitete ich ein Projekt aus und schickte es gerade noch rechtzeitig nach Potsdam. In der Anlage ging das von mir und Milan Novák verfasste Buch mit.

Dann, einige Wochen später, der Anruf von Dr. Harald Roth, dem Direktor des Kulturforums (ich saß gerade in meinem Lieblingscafé in Pergine Valsugana). Und jetzt bin ich hier, stolze Stadtschreiberin in Pilsen.

Aber ohne Rudolf Kalvach und seine tragische Lebensgeschichte

Rudolf Kalvach, österreichischer Maler und Grafiker, starb in der tschechoslowakischen Nervenheilanstalt Kosmonosy.

ohne Milan Novák



ohne Jana Cisar und Peter Zach (die ich schon in einem meiner vorausgegangenen Einträge über das Pilsner Filmfestival Finale vorgestellt habe) wäre ich niemals auf die Idee gekommen, mich an dem Stipendium-Wettbewerb zu beteiligen, und niemals hätte ich gedacht, dass auch Träume Wirklichkeit werden können. Und mein Traum war: einige Monate in Tschechien zu verbringen und meine Beziehung zu meinem Geburtsland und dessen Bewohnern auszuloten.

So, das wäre jetzt meine Stadtschreiberin-Vorgeschichte. Aber es vergeht keine Woche, in der ich mich nicht an Milan Novák wenden würde. Nicht an den Neurologen Novák, sondern an den Historiker, der auch auf meine schwierigsten und heikelsten Fragen eine Antwort findet. Eine immer sehr schnelle Antwort. Und wir fragen uns, ob und wann wir das nächste Buch zusammen schreiben.







Meine Nothelfer

Heute führe ich eine neue Mini-Rubrik ein: die meiner Nothelfer und Schutzengel (dabei fällt mir gerade auf, dass das Wort „Engel“ keine weibliche Form hat). Mir aber standen bis jetzt besonders weibliche Schutzengel zur Seite. So möchte ich sie nach und nach vorstellen.

Von Šárka Krtková war schon in einem meiner vorausgegangenen Posts die Rede („Spaziergang an der Radbuza“). Eine andere Šarka kam mir bei einem kürzlichen Live-Interview im Tschechischen Radio Pilsen zu Hilfe. Als perfekte Simultandolmetscherin.

Šárka Kuthanová

Šárka Kuthanová, 31 Jahre alt, wurde in Pilsen geboren, wo sie heute wieder lebt. Während der Gymnasialzeit verbrachte sie ein Schuljahr als Gastschülerin bei einer deutschen Familie in Weiden in der Oberpfalz. Solche Austauschprogramme bestehen – zum Beispiel –  zwischen dem Masaryk-Gymnasium in Pilsen und dem Augustinus-Gymnasium in Weiden. „Ein hübsches Städtchen“, kommentiert sie, „es war eine schöne Zeit“. Nach dem Abitur studierte sie Germanistik und Psychologie in Pilsen, schloss ihr fünfjähriges Studium mit der Magisterarbeit „Entwicklungstendenzen in der Morphologie der deutschen Gegenwartssprache“ ab und ist heute in Pilsen als freie Dolmetscherin und Übersetzerin tätig.

Nach dem Rundfunkinterview gehen wir in ein nahes Café („Da gibt es sehr guten Kuchen!“). Das Gespräch kommt – fast zwangsläufig in Tschechien zwischen einer Tschechin und einer Deutschen – auf die Vertreibung. Auch auf die ehemals in heute tschechischen Dörfern lebenden Deutschen, die manchmal in „ihre“ alten Häuser hineinschauen, ja sich in ihrer jetzt von Neusiedlern bewohnten Wohnung umschauen möchten. Das geht manchmal gut, erzählt Šárka. Aber wenn ganze Busse aus Deutschland auf Alte-Häuser-Sightseeingtour anreisen, dann kommen ihnen die jetzigen Einheimischen nicht immer freundlich entgegen. Nach dem Motto: „Ich wohne in meinem Haus und mache die Tür zu!“

Und ehrlich gesagt: Wer möchte sich schon seine Wohnung immer wieder von Fremden anschauen lassen?



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