Mittwoch, 15. Juli 2015

Ein tschechischer Oskar Schindler


Přemysl Pitter rettete jüdische, deutsche und tschechische Kinder

„Auch über Přemysl Pitter sollten Sie einen Text schreiben. Er war zwar ein Prager und hauptsächlich in und um Prag tätig. Aber gegen Ende der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatte er seinen Wirkungsbereich auch bis in die Pilsner Region ausgedehnt, genau gesagt nach Mýto bei Rokycany. Es war (natürlich) wieder Antonín Kolář, der Geschichtslehrer vom Pilsner Masaryk-Gymnasium, von dem schon mehrfach die Rede war, der mich auf dieses Thema aufmerksam machte. 

Přemysl Pitter
Přemysl Pitter? Sollte ich den kennen? Aufrichtig gesagt, hatte ich noch nie von ihm gehört. Eine Bildungslücke? Sicher. Die ich aber mit vielen seiner Landsleute teile. Denn nur relativ wenige Tschechen kennen diesen Humanisten, der sich vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg um tschechische, deutsche und jüdische Kinder kümmerte. Ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und ihre Religion. Der sie zusammenbrachte und in ihnen Verständnis für die Anderen und Toleranz weckte. Der sie aber vor allem rettete. Vor Tod durch Hunger und durch Hass.

Přemysl Pitter hatte sich im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger gemeldet. Und kam als Kriegsdienstverweigerer und Pazifist nach Hause. Dennoch verband ihn mit dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk, der ihn hätte zum Tode verurteilen können, eine langjährige gegenseitige Wertschätzung.

In Žižkov, einem armen Prager Viertel, gründete er in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Heim, in dem er Kinder von jüdischen und deutschen Eltern aufnahm. Aber auch von tschechischen Familien des Stadtviertels, die ihren Kindern wenig, zu wenig zu bieten hatten. Olga Splichalová, die erste Frau von Václav Havel, erinnerte sich ihr Leben lang an die im Milíčův dům verbrachten Tage und Wochen, in denen sie Nahrung, Wärme und Liebe gefunden hatte. Seinen Namen hatte das Haus im Übrigen nach Jan Milíč (um 1320–1374), einem tschechischen Bußprediger des Mittelalters, an dem  Pitter sich orientierte. 

Das Milíčův dům in Prag in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts

Auf der Suche nach einem sommerlichen Erholungsheim für „seine“ tschechischen und deutschen Kinder kam Přemysl Pitter 1938 in das Städtchen Mýto bei Rokycany. Und so haben wir uns wieder Pilsen genähert. Im Rathaus von Mýto wissen sie sofort Bescheid, als ich nach einer pamětní deska für Pitter frage: Sie wurde im Jahr 1995 an der Außenwand der am Ortsrand gelegenen Volksschule angebracht. Und der Bürgermeister des nahen Städtchens Rokycany beschreibt mir, wo ich das ehemals Pittersche Sommerhaus finden kann: Es stehe noch heute auf dem Gelände eines „Motels“ (worunter man in Tschechien eine Art Campingplatz mit hölzernen Bungalows versteht), in der baulichen Struktur unverändert, wie vor fast 80 Jahren. Přemysl Pitter ist also doch kein Unbekannter unter den Tschechen.

Das Sommerhaus in Mýto bei Rokycany

Auch nach Kriegsende setzte Přemysl Pitter seine Tätigkeit zur Rettung jüdischer, den Nazi-Konzentrationslagern entkommener Kinder und deutscher verwaister oder allein gebliebener Kinder fort. Der Staat, der seinen Bemühungen anfangs tolerant gegenüberstand, stellte ihm bei Prag vier leer stehende Schlösser zur Verfügung: Štiřín, Olešovice, Lojovice und Kamenice, in denen von Mai 1945 bis Mai 1947 mehr als 800 Kinder aufgenommen wurden. Jüdische Kinder, die abgemagert und traumatisiert aus deutschen Konzentrationslagern gekommen waren, und deutsche Kinder, die in tschechischen Lagern als Nazi-Kinder beschimpft und verunglimpft wurden und um ihr Leben fürchten mussten. Als das kommunistische Regime ihm seine Arbeit erschwerte, ja unmöglich machte, flüchtete er Anfang der fünfziger Jahre nach Deutschland. In einem Flüchtlingslager bei Nürnberg kümmerte er sich als Laienpriester um andere Flüchtlinge und ging dann in die Schweiz, wo er im Jahr 1976 starb: ein „Gerechter unter den Völkern“ – wie das Land Israel ihn würdigte.

Doch Pitter kümmerte sich nicht nur um Kinder. Er stellte sich auch der antideutschen Stimmung entgegen, die damals um sich griff, schreckte nicht davor zurück, die an den Deutschen verübten Gewalttätigkeiten der Tschechen zu kritisieren, ja er verglich die tschechischen Sammellager für Deutsche mit den Nazi-KZs. Zugleich aber nahm er Kontakte zu vertriebenen Sudetendeutschen auf und bat sie – lange vor dem Händereichen zwischen deutschen und tschechischen Politikern –, Vergebung zu üben: ein Thema, das bis heute noch nichts an Aktualität verloren hat.

Nächstenliebe und Unerschrockenheit: Es ist zu hoffen, dass diese Eigenschaften Přemysl Pitters den tschechischen Kindern verdeutlicht und beigebracht werden. Und dass besonders die Lehrer der Schule in Mýto bei Rokycany, wo die Gedenktafel für diesen tschechischen Humanisten hängt, diese Gelegenheit zu nutzen wissen.

An der Volksschule in Mýto angebrachte Gedenktafel an
Přemysl Pitter

Literaturtipp: Pavel Kohn, Mein Leben gehört nicht mir. Über Persönlichkeit und Werk des Humanisten Premysl Pitter, Prag: Verlag Vitalis 2000


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