Přemysl Pitter rettete jüdische,
deutsche und tschechische Kinder
„Auch über Přemysl Pitter sollten Sie einen Text schreiben. Er war zwar ein
Prager und hauptsächlich in und um Prag tätig. Aber gegen Ende der dreißiger
Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatte er seinen Wirkungsbereich auch bis in
die Pilsner Region ausgedehnt, genau gesagt nach Mýto bei Rokycany.“ Es war
(natürlich) wieder Antonín Kolář, der Geschichtslehrer vom Pilsner
Masaryk-Gymnasium, von dem schon mehrfach die Rede war, der mich auf dieses
Thema aufmerksam machte.
Přemysl Pitter |
Přemysl Pitter? Sollte ich den kennen? Aufrichtig gesagt, hatte ich noch
nie von ihm gehört. Eine Bildungslücke? Sicher. Die ich aber mit vielen seiner
Landsleute teile. Denn nur relativ wenige Tschechen kennen diesen Humanisten,
der sich vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg um tschechische, deutsche
und jüdische Kinder kümmerte. Ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und ihre
Religion. Der sie zusammenbrachte und in ihnen Verständnis für die Anderen und
Toleranz weckte. Der sie aber vor allem rettete. Vor Tod durch Hunger und
durch Hass.
Přemysl Pitter hatte sich im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger gemeldet.
Und kam als Kriegsdienstverweigerer und Pazifist nach Hause. Dennoch verband
ihn mit dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk, der
ihn hätte zum Tode verurteilen können, eine langjährige gegenseitige
Wertschätzung.
In Žižkov, einem armen Prager Viertel, gründete er in den dreißiger Jahren
des vorigen Jahrhunderts ein Heim, in dem er Kinder von jüdischen und deutschen
Eltern aufnahm. Aber auch von tschechischen Familien des Stadtviertels, die
ihren Kindern wenig, zu wenig zu bieten hatten. Olga Splichalová, die erste
Frau von Václav Havel, erinnerte sich ihr Leben lang an die im Milíčův dům verbrachten Tage und Wochen,
in denen sie Nahrung, Wärme und Liebe gefunden hatte. Seinen Namen hatte das
Haus im Übrigen nach Jan Milíč (um 1320–1374), einem tschechischen Bußprediger
des Mittelalters, an dem Pitter sich
orientierte.
Das Milíčův dům in Prag in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts |
Auf der Suche nach einem sommerlichen Erholungsheim für „seine“
tschechischen und deutschen Kinder kam Přemysl Pitter 1938 in das Städtchen Mýto bei
Rokycany. Und so haben wir uns wieder Pilsen genähert. Im Rathaus von Mýto wissen
sie sofort Bescheid, als ich nach einer pamětní
deska für Pitter frage: Sie wurde im Jahr 1995 an der Außenwand der am Ortsrand
gelegenen Volksschule angebracht. Und der Bürgermeister des nahen Städtchens
Rokycany beschreibt mir, wo ich das ehemals Pittersche Sommerhaus finden kann:
Es stehe noch heute auf dem Gelände eines „Motels“ (worunter man in Tschechien
eine Art Campingplatz mit hölzernen Bungalows versteht), in der baulichen
Struktur unverändert, wie vor fast 80 Jahren. Přemysl Pitter ist also doch kein
Unbekannter unter den Tschechen.
Das Sommerhaus in Mýto bei Rokycany |
Auch nach Kriegsende setzte Přemysl Pitter seine Tätigkeit zur Rettung
jüdischer, den Nazi-Konzentrationslagern entkommener Kinder und deutscher
verwaister oder allein gebliebener Kinder fort. Der Staat, der seinen
Bemühungen anfangs tolerant gegenüberstand, stellte ihm bei Prag vier leer
stehende Schlösser zur Verfügung: Štiřín, Olešovice, Lojovice und Kamenice, in
denen von Mai 1945 bis Mai 1947 mehr als 800 Kinder aufgenommen wurden. Jüdische Kinder, die abgemagert und
traumatisiert aus deutschen Konzentrationslagern gekommen waren, und deutsche
Kinder, die in tschechischen Lagern als Nazi-Kinder beschimpft und verunglimpft
wurden und um ihr Leben fürchten mussten. Als das kommunistische Regime ihm
seine Arbeit erschwerte, ja unmöglich machte, flüchtete er Anfang der fünfziger
Jahre nach Deutschland. In einem Flüchtlingslager bei Nürnberg kümmerte er sich
als Laienpriester um andere Flüchtlinge und ging dann in die Schweiz, wo er im
Jahr 1976 starb: ein „Gerechter unter den Völkern“ – wie das Land Israel ihn
würdigte.
Doch Pitter kümmerte sich nicht nur um Kinder. Er stellte sich auch der
antideutschen Stimmung entgegen, die damals um sich griff, schreckte nicht davor zurück, die an den Deutschen
verübten Gewalttätigkeiten der Tschechen zu kritisieren, ja er verglich die
tschechischen Sammellager für Deutsche mit den Nazi-KZs. Zugleich aber nahm er
Kontakte zu vertriebenen Sudetendeutschen auf und bat sie – lange vor dem Händereichen
zwischen deutschen und tschechischen Politikern –, Vergebung zu üben: ein
Thema, das bis heute noch nichts an Aktualität verloren hat.
Nächstenliebe und Unerschrockenheit: Es ist zu hoffen, dass diese
Eigenschaften Přemysl Pitters den tschechischen Kindern verdeutlicht und
beigebracht werden. Und dass besonders die Lehrer der Schule in Mýto bei
Rokycany, wo die Gedenktafel für diesen tschechischen Humanisten hängt, diese
Gelegenheit zu nutzen wissen.
An der Volksschule in Mýto angebrachte Gedenktafel an Přemysl Pitter |
Literaturtipp: Pavel Kohn, Mein Leben gehört nicht mir. Über Persönlichkeit und Werk des Humanisten Premysl Pitter, Prag: Verlag Vitalis 2000
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